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Bahnen ziehen (German Edition)

Bahnen ziehen (German Edition)

Titel: Bahnen ziehen (German Edition)
Autoren: Leanne Shapton
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arbeitet in einem verglasten Zimmer im hinteren Teil unseres Hauses an einem großen, blassgrün beschichteten Zeichentisch. Auf dem Tisch liegen Transparentpapier, Lineale und Zeichenschienen, die mich an Kruzifixe erinnern. An einer Ecke des Tischs steht ein nach Farben sortiertes Karussell mit Markern, das wir nicht berühren dürfen. Derek fragt meinen Vater, warum die Marker stinken. »Benzol«, antwortet der.
    Eines Abends, vielleicht war ich sieben, sah ich ihm, die Finger auf Augenhöhe in die Stifteschublade eingehakt, beim Arbeiten zu. Im kreisrunden Schein der Lampe lagen dickes rotes Papier, unsere Küchenschere mit dem schwarzen Griff und vier angespitzte blauschwarze Staedtler-Bleistifte. Er fing an, Buchstaben auf das rote Papier zu zeichnen.
    »Was wird das?«
    »Ein Geschenk für eure Mutter.«
    Die Schere machte ein dunkles Geräusch, bestimmt und behutsam. Er schnitt Wörter aus. Dann kam der letzte Scherenschnitt, und er hielt seine Arbeit hoch wie eine Papierpuppen-Kette.
    ALLES LIEBE ZUM HOCHZEITSTAG HON
    Es war das erste Mal, dass ich das Wort »Hon« geschrieben sah. Bei uns zu Hause existierte es nur als weiches, verschwommenes Schnurren; ich hatte keine Ahnung gehabt, dass es H - O - N geschrieben wurde oder dass es die Abkürzung von »Honey« war. Der Klang, wenn meine Eltern sich so nannten, gab mir ein Gefühl von Geborgenheit. Doch jetzt stand hier auf dem tomatenroten Papier ein serifenloses » HON « für meine Mutter. Mein Vater klebte es in eine cremefarbene Karte und reichte sie mir, damit ich sie ansehen konnte. Ich klappte sie ein paarmal auf und zu.
    »Das ist gut«
    »Danke.«
    Er lächelte, und ich gab ihm die Karte zurück.

    Mitten im Training, wenn mein Gehirn vom ewigen Zählen der Bahnen taub ist, Arme und Beine der Anstrengung müde,wenn ich Gregs Stimme satt habe und frustriert bin von meinen schlechten Zeiten und dem harten Tempo, stelle ich mir vor, was meine Mutter gerade tut:
    Sie parkt vor der Country-Style-Filiale Ecke Queensway und Dixie Road und kauft sich einen Kaffee. Sie bestellt ihn zum Mitnehmen, setzt sich dann aber, ohne den Mantel auszuziehen, an einen der Tische am dunklen Fenster. Sie sitzt still da, müde, und trinkt ihn in kleinen Schlucken. Manchmal bewegt sie die Lippen, wenn sie kurze Selbstgespräche führt. Manchmal schüttelt sie den Kopf und zieht die Brauen hoch. Um Viertel vor sechs verlässt sie das Café, den Becher immer noch in der Hand. Sie passiert die beiden Türen, geht zu ihrem Kombi und steigt ein. Dort stellt sie den Kaffee in den Becherhalter am Armaturenbrett, zieht den Gurt über ihren Schoß und stellt die Scheinwerfer an. Die Frauen hinter der Theke des Cafés sehen kurz auf, als meine Mutter langsam rückwärts aus der Parklücke fährt, dann widmen sie sich wieder ihrer Arbeit.
    Ich werde von einem Stück Treibgut aus den Gedanken gerissen: Blass. Opak. Ein präziser Schleimklumpen, der etwa dreißig Zentimeter unter der Oberfläche hängt. Er lauert auf meinem Weg wie etwas aus Der weiße Hai 3-D . Vom Anblick muss ich würgen, und ich wedele mit der Hand, versuche das Ding in die andere Bahn zu schieben.
    Ich erinnere mich genau an den Moment, als mir klar wurde, dass ich nicht zu den Olympischen Spielen fahren würde: Ich bin vierzehn, es ist halb sechs Uhr früh, das erste Viertel des Trainings ist vorbei. Ich schwimme schlampig, starre den schwarzen Streifen am Beckengrund an. Obwohl wir noch inder Aufwärmphase sind, bin ich schon erschöpft. Meine Arme tun weh, meine Beine tun weh, meine Lunge tut weh, und ich denke grimmig: Wozu das Ganze? Ich habe die ständigen Schmerzen satt, den mechanischen Zyklus von Atmen-Ziehen-Ziehen, Atmen-Ziehen-Ziehen, und das dumpfe graue Geräusch des rauschenden Wassers. Dann wird mir klar, ganz sanft, wie ein leises Aufleuchten: Ich fahre nicht zu den Olympischen Spielen. Ich werde nicht fahren. Nicht ich. Ich wehre mich gegen den Gedanken, verdränge ihn als negativ und defätistisch. Ich bringe das Training hinter mich, dusche kraftlos, ziehe mich um und warte am Eingang des Schwimmbads auf meine Mutter. Als ich ins Auto steige – schlecht gelaunt, durchweicht und ohne ihre Müdigkeit wahrzunehmen –, beschwere ich mich, dass sie zu spät kommt. Auf der Fahrt schweigen wir. Als wir bei Country Style sind, stellt sie sich auf den Parkplatz. Meine Haare sind an der Scheibe festgefroren, an die ich den Kopf gelehnt hatte.
    Ich besitze immer noch ein dunkelblaues T-Shirt vom darauf
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