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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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zerstörten es jedoch nicht mit einer heftigen Bewegung, wie ich erwartet hatte, sondern, indem sie eine Karte sorgfältig von der andern nahmen, bis nach großer Mühe, die genau der Arbeit entsprach, mit der es gebaut wurde, das Kartenhaus 23

    verschwunden war. Das seltsame Geschehen erinnerte mich an den Untergang eines Menschen, der lange zuvor gelebt hatte.
    Indem ich nämlich aus dem Verborgenen nach den Kindern sah, war es, als ob hinter dem ruhigen Bilde, das sich mir in der Stube darbot, ein zweites hervorleuchten würde, dunkler und seltsamer als das erste, aber doch mit ihm verwandt, verschwommen zuerst, dann immer deutlicher, und wie ein Verstorbener durch geheimnisvolle Handlung beschworen wird, trat jener Unglückliche in mein Bewußtsein, an den zu denken ich so lange nicht gewagt hatte, durch das Spiel der Kinder hervorgerufen, aber nicht schreckhaft, sondern durch das Zwielicht der Erinnerung gedämpft, mit scharfen Umrissen jedoch, denn sein Wesen war mir auf einmal im Bilde offenbar. Wie der hereinbrechende Tag uns bisweilen zuerst die Linien des Horizontes, dann aber die einzelnen Dinge enthüllt, tauchten die verschiedenen Züge dieses Menschen in mir auf.
    Auch wurden die dunklen Vermutungen in mir wach, die sich um seine Person gebildet hatten. So entsinne ich mich, daß mich damals die auf dem Tische liegenden Karten an das Gerücht gemahnten, das ihm eine geheime Leidenschaft zum Spiel nachsagte. Ich pflegte dies lange für eine Legende anzusehen, die sich um den absonderlichen Menschen gewo-ben hatte, wie vieles andere auch, ohne von der entsetzlichen Ironie zu ahnen, die ihn bestimmte. Mich hatte damals der Umstand getäuscht, daß er sich mit Dingen umgab, die nicht dem Augenblick unterworfen waren, doch hätten mich seine Worte warnen müssen, denn er liebte oft zu sagen, er verstehe mehr von der Kunst als wir alle, weil er dem Augenblick verfallen sei und sie darum so ruhig betrachten könne wie wir die Sterne. Dann scheint es mir heute wesentlich, daß mir selbst sein Name entfallen ist, doch glaube ich mich zu erinnern, daß ihn die Studenten den ›Rotmantel‹ nannten. Wie er zu diesem Namen gekommen sein mochte, wenn er ihn je führte, ist mir entschwunden, doch mag seine Vorliebe für die 24

    rote Farbe eine gewisse Rolle gespielt haben.
    Wie es jedoch bei Menschen oft der Fall ist, die eine große Macht über andere besitzen, lag auch der seinen ein verstecktes Verbrechen zugrunde, dem er sein riesiges Vermögen verdankte, über das wir märchenhafte Dinge hörten. Solche Verbrechen werden selten aus eigener Schlechtigkeit heraus begangen, sie sind ein notwendiges Werkzeug dieser Menschen, mit derer Hilfe sie in die Gesellschaft einbrechen, die sich ihnen verschließt.
    Das Verbrechen des ›Rotmantels‹ aber war seltsam, wie alles, was er unternahm, und auch die Art seltsam, wie er daran zugrunde ging, doch kann ich hier nicht verschweigen, daß es mir schwerfällt, die äusseren Ereignisse in meinem Geiste lückenlos herzustellen, die zu seinem Untergang führten. Es mag dies im Wesen der Erinnerung liegen, die uns Dinge, die wir in der Zeit erlebt haben, nun von außen und zeitlos vor Augen führt, so daß uns ein Gefühl der Unsicherheit befällt, da wir eine geheime Unstimmigkeit zwischen unserer Erinnerung und dem wirklich Gewesenen ahnen. Auch erinnern wir uns niemals an alle Episoden einer Handlung mit gleicher Deutlichkeit, einige verbergen sich in undurchdringbarem Dunkel, andere erstrahlen in äußerster Klarheit, daher pflegen wir uns oft in der Reihenfolge der einzelnen Momente zu irren, indem wir sie nach den Graden der Helligkeit einordnen und so von der Wirklichkeit unwillkürlich abweichen. So erscheint mir denn auch jene Nacht in einem gespensterhaften Licht, in der ich zum ersten Male die Gewalt des Malstromes spürte, der den ›Rotmantel‹ in den Abgrund reißen sollte.

    Wir versammelten uns damals gegen Ende des Herbstes bei einem der reichsten und unglücklichsten Männer unserer Stadt, der erst vor wenigen Jahren in bitterster Armut gestorben ist.
    Ich erblicke mich deutlich, wie ich mit dem Arzt, der mich damals während meiner langen Krankheit pflegte, in ein 25

    kleines Nebengemach mit eigenartiger Wölbung trete, dessen Wände den Lärm des Festes zu einer geheimnisvollen Musik dämpften. Auch ist es mir, als hätten wir damals ein sehr umständliches Gespräch geführt, das dem Wesen meines Partners entsprach, worin ich bemüht war, einen
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