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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Sinn und ohne Leidenschaft, verloren in fremdem Lande, unter Menschen, die den Fremden, der in ihr Land eingedrungen war, verachteten, wie Folterwerkzeuge verachtet werden oder wie der Henker als ehrlos angesehen wird. Über alle war ein riesenhafter Zwang gelegt, Unterdrückte und Unterdrücker aneinanderkettend wie Galeerensklaven, und das Gesetz, das sie trieb, war die Macht des Alten. Die Menschen waren ineinander verbissen, jede Menschlichkeit zwischen ihnen gefallen, und je mehr das Volk haßte, desto grausamer wurden die fremden Soldaten. Sie marterten die Frauen und Kinder, um die Qualen nicht zu fühlen, die sie selber dulden mußten.
    Alles war notwendig, wie in den mathematischen Büchern alles notwendig ist. Die feindliche Armee war eine ungeheure, komplizierte Maschine, die auf dem Lande lastete und es zerdrückte, aber irgendwo mußte das Hirn sein, das sie lenkte und seine Ziele mit ihr verfolgte, ein Mensch aus Fleisch und Blut, den man mit allen seinen Sinnen hassen konnte, und dies war der Alte, von dem sie nur flüsternd zu sprechen wagten, wenn sie ganz unter sich waren. Niemand hatte ihn je gesehen, sie hörten nie seine Stimme, sie wußten nicht einmal seinen Namen, die grausamen Maßregeln, die sie erdulden mußten, trugen die Unterschriften gleichgültiger Generäle, die dem Alten gehorchten, ohne je von ihm gehört zu haben, und sich vielleicht einbildeten, aus eigenem Ermessen zu handeln.
    Daß die Unterdrückten vom Alten wußten und daß sie ihn haßten, war ihre geheime Kraft, durch die sie den Feinden überlegen waren. Die fremden Soldaten haßten den Alten nicht, sie wußten nichts von ihm, wie die Maschinenteile nichts vom Menschen wissen, dem sie dienen müssen, sie haßten auch das Volk nicht, das sie unterdrückten, aber sie fühlten, daß es immer mächtiger wurde in seinem Haß, der sich gegen etwas richtete, das sie nicht kannten, mit dem sie 19

    aber geheimnisvoll verbunden sein mußten. Sie sahen sich vom Volk immer verächtlicher behandelt, und sie wurden immer grausamer und hilfloser. Sie wußten nicht, was sie taten und warum sie unter den fremden Menschen waren, die so tödlich und beharrlich haßten. Etwas war über ihnen, das mit ihnen verfuhr, wie man mit Tieren verfährt, die man zu diesem oder jenem abgerichtet hat. So lebten sie dahin wie Gespenster, die in den langen Winternächten umhergehen.
    Über allen aber, den fremden Soldaten, den Bauern und den Menschen in den alten Städten, kreisten Tag und Nacht riesige Silbervögel, die unmittelbar dem Alten unterstellt waren, wie das Volk zu wissen glaubte. Ganz hoch kreisten sie, daß man nur selten das Brüllen ihrer Motoren vernahm. Hin und wieder stießen sie von ihren Höhen wie Geier herab, ihre tödlichen Lasten auf die Dörfer zu werfen, die rot aufflammten unter ihnen, oder auf eigene Kolonnen, die den Befehlen nicht schnell genug nachgekommen waren.
    Dann aber erreichte der Haß der Unterdrückten jene hohen Grade, wo selbst schwache Menschen fähig werden, das Höchste zu vollbringen, so daß es einem jungen Weibe bestimmt war, den zu finden, den sie mehr haßte als alles in der Welt. Wir wissen nicht, wie sie zu ihm gelangte. Wir können nur vermuten, daß der äußerste Haß eine Hellsichtigkeit verleiht und die Menschen unangreifbar macht. Sie kam zu ihm, ohne daß jemand sie zu hindern suchte. Sie fand ihn allein in einem kleinen altertümlichen Saal, dessen Fenster weit offen waren, durch die das Licht der Sonne flutete und das Gezwitscher der Vögel hereindrang, wo an den Wänden alte Bücher standen und Büsten der Denker. Nichts war außergewöhnlich und deutete darauf hin, daß er in diesem Saal sein mußte, und doch erkannte sie ihn. Er saß über eine große Karte gebeugt, riesig und ohne Bewegung. Er schaute ihr ruhig entgegen, die Hand auf einen großen Hund gelegt, der zu seinen Füßen saß. Es war nichts in diesem Blick, das bedroh-20

    lich war, aber auch keine Frage, woher sie komme. Sie blieb stehen und begriff, daß ihr Spiel verloren war. Aber dennoch nahm sie den Revolver aus den Falten ihres Gewandes und richtete ihn auf den Alten. Dieser lächelte nicht einmal. Er schaute gleichgültig auf die Frau, und endlich, als er begriff, streckte er die Hand ein wenig vor, wie wir es Kindern gegen-
    über tun, die uns etwas schenken wollen. Sie näherte sich ihm und legte den Revolver in seine offene Hand, die ihn leise umschloß und langsam auf den Tisch legte. All diese Bewegungen hatten etwas
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