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Aufgeflogen - Roman

Aufgeflogen - Roman

Titel: Aufgeflogen - Roman
Autoren: dtv
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die Augen etwas zusammen. Die Sonne war herausgekommen, die Schneeflocken glitzerten, das Weiß blendete. Ich wollte für einen Physik-Test lernen. Aber Ben hatte keine Zeit. Nach der Schlappe bei Isabel hatte er sich gleich mit einer Verflossenen verabredet, die noch auf ihn stand. Er musste wohl sein Ego polieren.
    »Manchmal darf man es sich leicht machen«, hatte er gesagt.
    Normalerweise fand ich seine Sprüche cool. Heute nervten sie mich.
    Isabel ging mir nicht aus dem Kopf. Etwas an ihr war besonders. Ich wollte gerne mehr über sie wissen.
     
    Im Internet recherchierte ich über Kolumbien. Ben hatte offenbar recht. Hier stand viel von Drogen und Gewalt, von Armut und Entführungen, von Guerilleros und Paramilitares   – gekaufte Killer, die kleine Bauern von ihren Höfen vertreiben sollten   – las ich in einem Bericht. Der Großgrundbesitzer will seine Felder erweitern, also wird den armen Familien ein bisschen Geld geboten, damit sie gehen. Weigern sie sich, so kann es sein, dass sie dieses ›Nein‹ nicht überleben.Die vertriebenen Bauern gehen nach Bogotá, hieß es weiter, und verdienen ihren Lebensunterhalt mit Betteln. Ganz unten oder tot   – das war ihre Wahl.
    Warum hatte Isabels Familie das Land verlassen? War es ihnen so oder so ähnlich ergangen? Waren sie Asylbewerber? Oder Gastarbeiter? Oder Wirtschaftsflüchtlinge, wie mein Dad sagen würde?
     
    Ich machte mir Notizen zu diesem Land, das mich bislang kein bisschen interessiert hatte. Vielleicht konnte ich beiläufig ein paar Infos einstreuen, wenn die Sprache noch mal auf Kolumbien kam. Ich wollte Isabel beeindrucken. Und es besser machen als Ben, der abgeblitzt war.
     
    Wenn sie in Kreuzberg wohnte, was machte sie dann an unserem Gymnasium? Es gab genug Schulen, die näher lagen. Wo war sie zuvor gewesen und warum war sie dort weggegangen? Ich wollte sie gerne fragen, aber wenn sie mich so locker abtropfen ließ wie sie das mit Ben gemacht hatte   – nein danke.
     
    Isabel saß bereits auf ihrem neuen Platz, als ich am nächsten Morgen ins Klassenzimmer kam. Sarah lächelte mich an. Sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass ich meine sensible Seite wieder entdeckte, vor allem in Bezug auf sie. Sarah war nett, sehr nett sogar. Sie sah toll aus. Ich mochte sie. Aber selbstwenn ich vor ein paar Tagen noch überlegt hatte, ob wir es noch mal versuchen sollten, jetzt wusste ich: Es war vorbei. Sie interessierte mich nicht. Sie faszinierte mich nicht.
    Ich versuchte, einen Blick von Isabel einzufangen, aber sie führte uns erneut die Kunst vor, durch uns alle hindurchzublicken. Als wären wir ihr egal. Als wäre sie auf niemanden angewiesen, ein Mensch wie eine Insel. Es wirkte nicht einmal arrogant.
    Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie Kontakt vermied, um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. Ich habe ihr nicht angesehen, wie sehr sie einen guten Freund nötig hatte. Wobei ich damals nicht unbedingt davon träumte, nur ihr guter Freund zu sein, ebenso wenig wie Ben, Luke, Daniel und alle anderen aus meiner Klasse.
     
    Sie kam immer pünktlich, sie verschwand unmittelbar nach dem Unterricht. Sie hatte immer ihre Hausaufgaben gemacht, obwohl sie in Mathe deutlich hinterherhinkte. In der Pause war sie kaum zu finden. Wo sie sich aufhielt, keine Ahnung. Ich konnte nicht ständig das ganze Schulgebäude, den Hof, die Fahrradkeller, die Bibliothek, die Räume nach ihr absuchen, am allerwenigsten die Mädchentoiletten.
    Ben verlor bald die Lust an unserer Wette.
    »Sie weiß gar nicht, was sie verpasst«, sagte er und verabredete sich mit Marie aus der Parallelklasse.
     
    »Was liest du denn da?«, fragte meine Mutter. Ich saß in ihrem bequemen Wohnzimmersessel, hatte ein Buch von Gabriel García Márquez auf dem Bauch liegen und träumte vor mich hin. Mom sah auf den Buchdeckel und lachte: »›Hundert Jahre Einsamkeit‹. Da hast du dir ja was vorgenommen.«
    »Es ist interessant«, behauptete ich, obwohl ich über Seite 50 noch nicht hinausgekommen war.
    Ich sah ihr an, dass sie mir nicht glaubte. Ich rührte ihre Bücher sonst nie an. In ihrem Blick lag die Frage, was mit mir los war. Aber ich beantwortete sie nicht. Weil ich es selbst nicht so genau wusste.
     
    Zwei Wochen nachdem Isabel in unsere Klasse gekommen war, nahm mich Albrecht beiseite.
    »Ich habe ein Anliegen, Christoph«, sagte er, und ich schluckte, denn das klang verdammt nach Arbeit.
    »Ihre neue Mitschülerin hat Lücken in Mathematik«, erklärte er
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