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Aufgedirndlt

Aufgedirndlt

Titel: Aufgedirndlt
Autoren: Jörg Steinleitner
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Bernhard plagten regelmäßig hypochondrische Schübe, während derer er sich für unheilbar krank hielt und sich dann entweder in eine tiefe Depression flüchtete oder aber mit Selbstmordgedanken kämpfte. Es kam auch schon vor, dass Bernhard einfach für Tage verschwand – und sich dann plötzlich, wie aus dem Nichts, wieder bei ihr mit der Mitteilung meldete, er sei in einer Klinik, weil man vermute, er habe einen Gehirntumor. Natürlich war an all den Tumoren und sonstigen Gebrechen nie etwas dran. Aber zum einen konnte sich Anne nie ganz sicher sein, ob sich Bernhard in seiner Verzweiflung über eine eingebildete unheilbare Krankheit nicht doch einmal das Leben nahm, zum anderen bereitete es ihr jedes Mal große Probleme, wenn er ohne Vorankündigung verschwand und sie mit Lisa allein dastand. Denn wenn Bernhard nicht da war, wer holte Lisa dann von der Schule ab? Wer machte mit ihr Hausaufgaben? Und: Wo war Lisa jetzt?
    Anne überprüfte den Anrufbeantworter, aber der ließ nur die Nachricht erklingen, dass sie herzlich eingeladen sei, fürs Sommerfest der Schule einen Kuchen zu backen, und zudem solle sie beim Verkauf mithelfen. Bei dem angekündigten Festtag handelte es sich um einen Mittwoch, was Anne ein erneutes »Fuck« entlockte, denn das bedeutete, dass sie sich einen Tag Urlaub nehmen musste, um in der Schule mit dabei zu sein. Einen Tag Urlaub zum Kuchenverkaufen. Wie machten das eigentlich andere Alleinerziehende?
    Nachdem Anne Loop das obere Stockwerk des Hauses und auch den Garten nach Lisa und Bernhard abgesucht hatte und ausschließen konnte, dass die beiden sich einen Spaß mit ihr erlaubten, wählte sie zuerst Bernhards Mobilnummer. Es tutete eine Weile, was Anne für einige Augenblicke Hoffnung schöpfen ließ, doch dann ging die Mailbox an. Warum habe ich mir nur diesen Idioten als Freund ausgesucht?, schoss es ihr durch den Kopf, und sie verspürte ob dieses Gedankens nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Natürlich war Bernhard irgendwie auch toll. Er war einfühlsam, gebildet, ein Familienmensch – wenn er gesund war. Aber wenn dann wieder diese verfluchte Hypochondrie die Macht übernahm … Als Nächstes wählte Anne die Nummer der Familie von Lisas bester Freundin Emilie. Die Siebenjährige ging gleich persönlich ans Telefon.
    »Emilie Eberhöfer?«
    »Hallo, Emilie, hier spricht Anne. Ist Lisa bei dir?«
    »Ja.«
    Anne spürte die Erleichterung am ganzen Körper.
    »Gibst du sie mir mal?«
    »Wieso?«
    »Weil ich sie was fragen will.«
    »Was?«
    Unglaublich, wie selbstbewusst die Kinder heutzutage sind, dachte Anne kurz und antwortete mit liebevoller Strenge: »Geht dich nichts an. Gib mir jetzt die Lisa!«
    Kurz darauf war Lisa Loop am Apparat: »Hallo, Mama!«
    »Hallo, Lisa, warum bist du bei Emilie?«
    »Weil Bernhard weg musste.«
    »Hat er dich von der Schule abgeholt?«
    »Ja, aber dann hat er gesagt, ich soll mit Emilie mitgehen.«
    »Wieso?«, fragte Anne verständnislos.
    »Keine Ahnung. Er hat nur gesagt, dass er weg muss. Du, wir malen gerade.«
    Kinder gehen mit den Verrücktheiten des Lebens wesentlich entspannter um als Erwachsene, stellte Anne fest und verzichtete darauf nachzufragen, wohin Bernhard »musste«, sie hatte ohnehin so eine Ahnung. »Gibst du mir mal Emilies Mutter?«
    »Wieso?«
    »Lisa, gib mir jetzt bitte Emilies Mutter, verdammt!«
    Als die Mutter der Schulfreundin am anderen Ende der Leitung war, entschuldigte sich Anne, dass Bernhard ihr die Verantwortung für Lisa so kurzfristig »aufs Auge gedrückt« hatte. Aber auch wenn Emilies Mutter ihr mit keinem Ton das Gefühl gab, dass sie Bernhards Vorgehen für nicht so geschickt hielt, fühlte Anne sich schlecht. Wie ätzend es doch war: Ständig brachte Bernhard sie in unangenehme Situationen. Wie konnte jemand, der über die Philosophie der Verantwortung promovierte, derart verantwortungslos sein?
    Als Anne am nächsten Tag die Dienststelle betrat, war der Groll verflogen. Zwar hatte sie am Abend vorher noch mehrmals versucht, Bernhard auf dem Handy zu erreichen, jedoch erfolglos. Doch dieses Mal hatte Anne keine verheulte Nacht verbracht. Sie hatte beschlossen, sich keine Sorgen mehr um ihn zu machen. Seine hypochondrischen Eskapaden gingen ihr schon viel zu lange auf die Nerven! Sie würde sich gefühlsmäßig von ihm abkoppeln, zumindest in diesen Phasen. Und: Bernhard würde sich wieder melden. Ganz sicher würde er sich wieder melden. Mit welch überraschender Nachricht dies sein würde,
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