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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman
Autoren: Ulla Hahn
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dick vermummt, stiegen zu, dampften weißen Atem, zogen Handschuhe aus, bliesen warme Luft hinein und zogen sie wieder an. Niemand sprach, alle starrten aus dem Fenster oder vor sich hin.
    Wie anders war es morgens auf der Fahrt nach Großenfeld zugegangen, wenn wir uns in der Straßenbahn getroffen hatten, Jungen und Mädchen aus Strauberg, Rheinheim, Hölldorf und Dondorf, jeder von uns voller Neuigkeiten, die man sich tuschelnd anvertraute.
    Vorbei. Ich seufzte, schob die Mütze zurück und presste meine Stirn gegen die Scheibe.
    Auch in diesem Jahr hatte ich Weihnachten ein Alpenveilchen zum Bürgermeister getragen. Es war das siebente. Das erste hatte ich ihm im ersten Realschuljahr auf seine spiegelblanken Lochmusterschuhe fallen lassen - ach, das arme Blümchen, ach, du armes Kind -, hatte ihm diese Pflanze, die wir uns zu Hause nicht leisten konnten, einfach nicht gegönnt. Trotzdem: Auch in den folgenden Jahren wurde ich am zweiten Weihnachtsfeiertag stets mit Blumentopf und Tausenddank für
das Schulgeld der Gemeinde in Grebels Villa geschickt. Hatte beobachten können, wie Grebels Frau Walburga immer dicker und gedunsener wurde, während der Bürgermeister zu vertrocknen und zu schrumpfen schien. Dies sei ja nun der letzte Blumengruß und Dank, hatte er gescherzt, bevor ich meine Bürolehre antrat, mir ein Fünf-, statt des üblichen Zwei-Mark-Stücks in die Hand gedrückt und alles Gute für den Ernst des Lebens gewünscht.
    Diesem Ernst war ich noch einmal entkommen. Gnädig, wenngleich ein wenig säuerlich lächelnd, hatte der Bürgermeister in diesem Jahr nun wieder sein Alpenveilchen entgegengenommen. Doch verlor er kein Wort darüber, dass ich der Gemeinde erneut auf der Tasche liegen würde; wünschte mir vielmehr wie die Jahre zuvor alles Gute, diesmal für meinen Start als »Jüngerin der Wissenschaft«, und dass ich der Gemeinde weiterhin Ehre machen solle.
    Die Straßenbahn schaukelte mich durch das behaglich warme Wohnzimmer des Bürgermeisters, um den Christbaum herum, vom Kamin zu den tropischen Pflanzen im Blumenfenster, schaukelte mich durch die Dunkelheit am Rhein entlang, ich döste, träumte, Endstation Rheinheim.
    Kalt war es draußen, schneidend kalt, stockfinster noch immer. Der Bus kam erst in zwanzig Minuten. Kein Wartehäuschen. Kein Unterstand. Ich gesellte mich zu der Menschentraube an der Haltestelle, dichtgedrängt wie die Schafe, nur wagten wir nicht, einander zu berühren. Doch unsere Atemstöße vermischten sich zu einer eisigweißen Wolke, die wie ein feiner Nebel zwischen und über uns lag.
    »In der Schweiz«, ließ sich eine Männerstimme nahe dem Haltestellenpfosten vernehmen, »ist sogar der Züricher See zugefroren.«
    Ein enormer Ausstoß weißgefrorener Luft unterstrich diesen Befund, den eine kältebebende Frauenstimme mit einem knappen »Der Bodensee auch« verstärkte. Jemand fing an, mit den Füßen aufzustampfen, eine zweite Person tat es der ersten
nach, ein Stampfen und Mit-den-Armen-um-sich-Schlagen begann, wir rückten auseinander und wuchsen doch in diesem Stampfen und Schlagen noch näher zusammen. Aus unseren Mündern stiegen die weißen Nebel wunderbar, und wir lachten hinter hochgestellten Kragen einander an.
    Der Bus wurde in Rheinheim eingesetzt. Kalt und leer. Einzeln in die Sitze gekauert, fiel unsere Heizgemeinschaft wieder auseinander, jeder zog sich in sich zusammen, machte sich klein, als böte er so der Kälte weniger Angriffsfläche. Ab Ruppersteg wurde der Bus voller, Jungen und junge Männer, meist Schüler, die wie ich zum Gymnasium fuhren. Der Tonfall ihrer Stimmen, die Lässigkeit ihrer Gesten, die bessere Kleidung zeigten, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihren Platz nicht nur im Bus von Ruppersteg nach Riesdorf oder im Franz-Ambach-Gymnasium einnahmen, im ganzen Leben ergriffen sie so von ihren reservierten Plätzen Besitz. Mussten sich weder beeilen noch anstrengen, das Klassenziel zu erreichen. Generationen, oder doch wenigstens die Eltern, hatten längst für eine Erneuerung des Abonnements der ersten Ränge gesorgt. Mein Blick fiel auf einen hochgeschlagenen Kragen, an den Rändern von schwarzem Pelz überlappt. Ich, Hilla Palm, würde es ihnen zeigen, sie bezwingen, meinen Platz in ihrer Abonnementsvorstellung erobern. Ich grinste: Der kurzgeschorene Kopf überm Pelz erinnerte an ein schlachtreifes Karnickel.
    »Die Naturgewalt des Lachens ist das allergrößte Wunder«, hatte Rosenbaum in seinem Brief geschrieben. »Der
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