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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman
Autoren: Ulla Hahn
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Fahrrad. Ich hab tiefe Taschen. Hier.« Ich zog auch die andere Hand aus der Tasche und nahm die Hand des Bruders in die meinen. Dazwischen der Lachstein.
    »Ich dachte mir«, hob Bertram an, und ich erkannte am Tonfall, dass er es ernst meinte, »also, ich hab mir gedacht, einen Wutstein hat man ja nicht immer zur Hand, aber den Lachstein, den kannst du überall mit hinnehmen. Und dann ist er bei dir, auch wenn dir mal nicht zum Lachen ist. Und dann denkst du an den Opa. Und an mich.«
    »Aber nur, wenn dir vorher nicht die Hände abfrieren. Keine Widerrede.« Bedächtig streifte ich dem Bruder den Fäustling über die Hand, die sich in meiner ein wenig erwärmt hatte. »Jetzt aber ab nach Hause. Oder brauchst du noch einen Wutstein?«
    »Eher einen Stein der Weisen«, grinste Bertram. »Morgen geht es gleich mit Mathe los.«
    »Owei«, seufzte ich. »So viele Steine könnt ich gar nicht mit mir rumschleppen, wie ich für Mathe bräuchte.«
    »Denk an den Lachstein.« Bertram wischte sich die Nase. Überzeugend klang er nicht.
    Ein Stück weit schob er das Fahrrad neben mir her, dann schraubte er sich auf den Sattel und rumpelte davon; sein Tischtennispartner wartete schon.
    Rechts den Buchstein, links den Lachstein in der Tasche wurde mir der Heimweg leicht. In der Dämmerung schien es wärmer zu werden. Warum hielt ich die Steine eigentlich so getrennt? Ich steckte sie in eine Tasche, lapis ridens zu lapis librorum, wo sie sich rieben, stießen, sirrten. Ich stupste sie zusammen, ließ sie klimpern, klickern, Lachstein und Buchstein kicherten sich eins. Natürlich. Lachstein erzählte Buchstein einen Witz.

    Die Großmutter hatte schon Feuer gemacht, war pünktlich wie jeden Morgen ins Kapellchen beim Krankenhaus zur Frühmesse aufgebrochen, Vater und Bruder schliefen noch, als ich an diesem ersten Schultag in die Küche kam. Die Mutter war nirgends zu entdecken, hatte aber ein Käsebrötchen aufs Brettchen gelegt, ein zweites in Cellophanpapier lag daneben. Brötchen, die es sonst nur sonntags gab! Aufgehoben, extra für mich! Lächelnd nickte ich hinauf zum Christuskreuz, das der Großvater geschnitzt hatte, und machte die Haustür leise hinter mir zu.
     
    Niemand stieg an der Pappenfabrik aus. Zu früh fürs Büro, für die Frühschicht zu spät. Doch solange ich bei ausgerenktem, rückwärtsgedrehtem Hals die beiden rußschwarzen Schornsteine noch im Blick hatte, durfte sich meine Zungenspitze zwischen meine Lippen drängen, im Triumph, hier nicht aussteigen zu müssen; nie mehr hier aussteigen zu müssen, nie wieder überquellende Aschenbecher und ab vor ad und 22. nach 21., nie mehr verstohlene Blicke auf nicht vorrücken wollende Uhrzeiger, nie mehr Sehr geehrte Herren und Prokuristenhände wie feuchte Lappen im Nacken.
    Ich dachte an Rosenbaum, und wie er mich vom Alkohol zurück in die Wahrheit der Wörter gerettet hatte. Kurz nachdem er mit Pastor Kreuzkamp und Lehrer Mohren für mich gekämpft hatte, war er mit seiner Frau nach Israel gezogen, zu seinem Sohn. Den Brief aus dem Kibbuz hatte ich wieder und wieder gelesen, so, wie früher Die kleine Meerjungfrau . Ich kannte ihn auswendig.
    »Glaub daran, dass Du wirklich das bist, was du fühlst zu sein«, hatte Rosenbaum geschrieben. »Trau Deiner inneren Sicherheit, egal, wie andere Dich sehen, oder was andere wünschen, was aus Dir werden soll. Du kannst Dich Dir selbst erzählen. Du bist Deine Geschichte. Lass nicht zu, dass andere Deine Geschichte schreiben. Folge Deiner Phantasie. Aber folge ihr mit Vernunft.

    Lerne zu schweigen. Schweigen ist Macht. Behandelt man Dich ungerecht, beleidigt man Dich, sag kein Wort, schau sie nur an - und denke. Denke, was Du willst! Lass Dich nicht hinreißen. Es gibt nichts Stärkeres als Wut - außer der Kraft, die sie zurückhält, die ist stärker.«
    Mit wem der Lehrer sprach, mit sich, mit mir, mit keinem und jedem, das war nicht herauszulesen. Ich nahm den Brief als sein Vermächtnis. Was der Großvater mir mit meinem Namen in goldenen Lettern auf einem Stein hatte mitteilen wollen, suchte Rosenbaum in Wörter zu übersetzen. Die Botschaft war dieselbe.
    Im spiegelnden Fenster der Straßenbahn sah ich mein Gesicht, die Dunkelheit draußen nur hin und wieder von fernen Lichtpunkten unterbrochen. Erst in Hölldorf waren Häuser zu erkennen, hier und da schon helle Fenster, die Schornsteine der Brauerei, grüne und rote Lampen an den Seilen eines Kahns im Hafen nahe der Haltestelle. Leute stiegen aus, andere,
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