Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
Lippen, alle Feuchtigkeit aufgesogen vom Abschied.
    Der Zug rollte schon über die Hohenzollernbrücke, als ich noch immer dastand - amamus, amatis, amant - und winkte, vor meinen Augen Bertrams Hände, die ein Glas voller Kaulquappen aus dem Wasser zogen und die Beute von einem Glas ins andere kippten. Das alte Glas und alles darin noch deutlich zu sehen, aber nie wieder erreichbar.
     
    An der Haltestelle beim Dom hielt ein kleines Mädchen seinen Roller mit beiden Fäusten gepackt und nahm Anlauf auf
eine Pfütze, das kindlich runde Kinn weit vorgestreckt. Aber die Kuhle war tief, verschlammt, der Roller blieb stecken. Das Mädchen patschte durchs Wasser, zog den Roller zurück, auf festen Boden, entfernte sich ein Stück von der Pfütze, packte den Roller, nahm Anlauf und versuchte es noch mal, ernst und entschlossen.
     
    Die Hohe Straße lag jetzt im Schatten, Neonbuchstaben blinkten von den Wänden, ein Saxophon drang durch die offene Tür vom Café Campi, ein Pärchen hörte zu, der Junge rauchte, das Mädchen blies Kaugummi auf. In meiner Tasche klapperten Lach- und Willstein, eine lachende Prof. Dr. Hildegard Palm in spe ging an den klagenden Tönen vorbei, und ich spürte wieder ein bisschen Signorina in mir. Ich griff nach den Steinen. Vielleicht würde ich morgen schon zu C&A gehen, gehen, nicht fahren, einfach hingehen, so, wie zu Piepers oder zum Mini-Markt und mich nach einem Rock, einem Kleid umsehen; oder, nein, zum Kaufhof würde ich gehen, den wir uns nie geleistet hatten, in die Girl-Abteilung, Jeans würde ich kaufen, einen Minirock und ein Dress. Zwischen den Zehen fühlte ich den Zehn-Mark-Schein. Seit dem Sparbuch trug ich ihn bei mir, unterm Fuß im Schuh, wie vor Jahren die Kalenderblätter mit den Kraftsprüchen. Isch hatte jet an de Föß. Meine Geldhaut. Schutzhaut. Ich hatte erfahren, wie empfindlich Armut macht. Die Geldhaut fehlt. Die Schutzhaut. Geld, das abschirmt vor den Rempeleien und Zumutungen der Wirklichkeit.
    Immer noch waren viele Menschen unterwegs, bummelten gemächlich und ungestört wie sonntags in Dondorf nach dem Hochamt. In der Schildergasse klappte der Eisverkäufer die Rückwand seiner Bude über den Verkaufstisch, schraubte den Deckel fest, koppelte das Wägelchen an sein Moped und fuhr davon.
    »Den zeisch isch an!«, schimpfte ein Mann ihm aufgebracht hinterher. »Dat is hie nur für Foßjänger!«
    »Ävver dann jibet hier kein Eis mehr«, gab seine Begleiterin zurück, worauf der Mann wortlos eine Zigarette aus der
Packung klopfte und sich empört nach dem Gelächter zweier Mädchen umdrehte, die ihn keines Blickes würdigten. Das war Stadt, Großstadt: Jeder schaute jeden an oder jeder an jedem vorbei oder drumherum, egal, jeder und jeder, das war so gut wie unsichtbar. Doch jedes Haus, jeder Stein schien mir zuzurufen: Du bist hier! Du bist neu! Gewaltig dehnte ich mich aus mir heraus, die Fassaden hinauf, über die Dächer in den Himmel über Köln schwebte mein Ich, eine gewaltige Freiheit, eine gewaltige Neuheit, die die ganze Straße, die ganze Stadt ausfüllte, während meine Füße Schritt für Schritt auf dem Boden blieben und mein Körper auf den Beinen, die Augen im Kopf gradaus und herum, hoch und höher, subsilire in caelum ex angulo licet, ich kann in den Himmel springen, aus dem Holzstall ins Himmelreich.
    Auf der Höhe der Antoniterkirche traute ich plötzlich meinen Ohren nicht. Ich blieb stehen. Wie schön er spielte, der Geiger. Und wie schön er selber war, mit seinen langen schwarzen Locken, dem schwarzen Krausbart, hochgewachsen, schlank, in einer sauberen, gebügelten Latzhose, wie sie Maler trugen, darüber ein Jackett. Ich ging an ihm vorbei, wie lebendig jauchzten und schluchzten die Töne hinter mir her, griffen nach mir, hielten mich fest, wie vor vielen Jahren die Töne des Zigeuners in den Wiesen am Rhein die kleine Hildegard ergriffen und die Sehnsucht nach einer Geige in ihr geweckt hatten. Mit dem ausgedienten Akkordeon der Rüppricher Cousine war ich abgespeist worden. Lindenwirtin, du junge hörte ich mich herausquetschten auf dem Geburtstag des falschen Großvaters, hörte noch einmal, wie ich versagte, einmal, zweimal, siebenmal, immer wieder hatte ich es spielen müssen, nicht ein Mal war es mir fehlerfrei gelungen, bis der falsche Großvater abgewinkt hatte. Versagt. Zwischen die Stangenbohnen hatte ich den Kasten geschmissen, der war kurz darauf weg, geklaut, und der Vater hatte den Hosengürtel gezogen, einmal, zweimal,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher