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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman
Autoren: Ulla Hahn
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Versteh nix! Lauter!« Jüppsche hängte sein Ohr am weit vorgestreckten Oberkörper aus dem Abteil.
    »Sach däm Ong-kel, he soll die Doppel-ripp …«
    »Nä, nä«, japste die Frau und versuchte, dem Redenden den Mund zuzuhalten.
    »… die dicke, wo dat Erna däm e Häz reinjestickt hat!«, brachte der Mann seine Mission zu Ende. Die Männer aus der Gruppe grölten, die Frauen kreischten und quietschen »Nä, nä!« und trippelten mit gekreuzten Beinen auf der Stelle.
    »Jüppsche! Scham disch!«
    »Dä hätt et Häz en dr Botz!«
    »Im Deckschlitz!«
    Das Gelächter hatte kaum ein wenig nachgelassen, als sich eine der Frauen die Augen wischte: »Un sach dem Lispeth …«, die Stimme blieb weg, die Frau quiekte und wischte sich die Augen.
    »Wat dann?«, rief der Fahrgast.
    »Sach ihr …« Lachen erstickte die Stimme abermals, krümmte die Frau wie unter Schlägen zusammen.
    »Ja, nu kall doch!«, schrie der im Abteil. »Wat soll isch sagen?«
    »Dat et vun mir dat Rezept für dä Opjesetze kritt!« Ein Rezept für Likör? Die Frau kreischte die Worte aus sich heraus, als seien es ihre letzten. Und wirklich. Es war das Letzte, was Bertram und ich, was alle Umstehenden, die aus unfreiwilligen zu immer willigeren Zuhörern geworden waren, von der lustigen
Truppe vernahmen. Die bloße Erwähnung des Rezepts von Opjesetztem brachte eine Wirkung hervor, als hätte man diesen nicht gläschen-, sondern flaschenweise genossen. Brüllendes Gelächter übertönte die Lautsprecheransage, die zum Einsteigen mahnte, die Frauen piepsten und schnappten nach Luft, bis schließlich aus den aufgesperrten Mündern nur noch matte, halb erstickte Keuch-, Japs- und Röchellaute kamen, der rheinische Heiterkeitskrampf in hilflosen Schlucksern verebbte und die Taschentücher, feucht von fröhlichen Tränen, gezückt werden mussten, um Jüppsche hinterherzuwinken.
    Schnaubend setzte sich der Zug, setzten sich Jüppsche und der gefangene Riese in Bewegung, eine Kette sonderbarster Köpfe zurücklassend.
    »Mannomann«, grinste Bertram, »die haben wohl alle ne Lachstein verschluckt.«
    »Nä, die brauchen so was nicht.« Was ich gesehen und gehört hatte, war mir von Familienfesten zu Hause vertraut. Doch vor dieser fremden Kulisse gewann die Szene, gewann jedes Wort eine zusätzliche Bedeutung, so, wie hinter dem gerade gelernten Fremdwort das vertraute Wort der Muttersprache eine neue Färbung gewinnt. Es war die Farbe des Abschieds.
    Bertrams Stimme und meine wurden von immer mehr Abschied immer leiser. Den Atem anhalten, die Zeit, den Abschied. Wir sind die Pilger drin.
    Bertram fragte, was das Zimmer denn koste, und ich sagte, die Hälfte bezahlt die Kirche.
    Auf dem Bahnsteig wehte der Wind fast wie um den Dom, Wind vom Rhein, vom Rhein, der von hier nach Dondorf floss, dem Bruder voran. Wie schnell floss der Rhein? Würde das Wasser, das wir gemeinsam gesehen hatten, vor ihm da sein oder später?
    »An Gleis 1 hat Einfahrt: Nahverkehrszug von Bonn nach Düsseldorf mit Halt in Köln-Deutz, Köln-Mülheim, Langenhusen-Riesdorf, Langenhusen-Ruppersteg, Großenfeld«, leierte die Lautsprecherstimme die Stationen herunter.

    Ein Arbeiter im Blaumann mit einem Eimer, vermutlich Schmieröl, ging am Zug entlang, bückte sich prüfend nach den Rädern und klopfte hier und da mit einem Schraubenschlüssel, fuhr mit einer Quaste über Schrauben, Ketten und Naben der hohen gusseisernen Räder.
    »Lommer jonn«, knuffte mich Bertram in die Rippen, »und denk dran: De Trone, die de lachs, muss de nit kriesche. 62 «
    Und wir schworen uns noch einmal amo, amas, amat.
    Der Zug war nicht sehr voll. Pendler und Einkäuferinnen waren schon zu Hause. Bertram stand im Abteilfenster wie dat Jüppsche zuvor, und ich reichte ihm eine Pfefferminzpastille nach oben. Dann ging der Mann mit der roten Mütze den Zug entlang, warf eine Tür nach der anderen ins Schloss, hob die Kelle, und diesmal galt sein Pfeifen uns. Ich spürte den Pfiff im Innersten meines Körpers.
    »Pass auf den Riesen auf!«, schrie Bertram, als der Zug aus der Halle zockelte, ich lief nebenher, dem flatternden, rotkarierten Taschentuch des Großvaters in der Faust des Bruders hinterher, lief mit auf Kinderbeinen, die immer älter wurden, bis zum Ende der Halle, wo der Zug Fahrt aufnahm. Der Bruder fuhr nach Dondorf zurück. Ich würde von nun an dorthin fahren. Hin nach Dondorf und zurück nach Köln. Unsere Wege trennten sich nicht. Aber die Richtung. Mein Mund so trocken, ledrig die
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