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Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land

Titel: Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
Autoren: Bettina Gaus
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ganz bei Sinnen. Aber sollte das so sein, dann muss das diese Frau nicht weiter interessieren, solange ich willens und imstande bin, meine Rechnung zu bezahlen. Sie zuckt die Achseln und erklärt mir, wie ich zu fahren habe. Gleichbleibend freundlich. Bar jeder Neugier. Und ohne irgendeinen Versuch zu unternehmen, mit mir über den Sinn meiner Absichten zu diskutieren.
    Das ist nicht selbstverständlich – das ist wunderbar. In Berlin führt Verständnislosigkeit sofort und unausweichlich zu Grobheit, bestenfalls zu unwirscher Nachfrage: »Wieso das denn?« Wehe, man hat dann nicht eine knappe – und überzeugende! – Begründung parat. Wer Erklärungen wünscht, muss sich bei uns schon erklären.
    Ganz anders in den USA. Niemals habe ich ein hilfsbereiteres Volk kennengelernt als deren Bewohner. Und niemals ein diskreteres. Wenn ich aus meinem Auto heraus einen Passanten nach dem Weg frage, dauert es – verlässlich – keine zwei Minuten, bevor der Fahrer eines anderen Wagens bremst und darauf hinweist, dass er über ein Navigationssystem verfügt und mir deshalb wohl eine zuverlässigere Hilfe sein kann als jeder Spaziergänger. Halte ich auf freier Strecke, dann stoppt fast unmittelbar danach jemand anders hinter mir und fragt mich, ob ich ein Problem habe. Der Kellner eines Restaurants hat kaum je eine Chance, mir zu erklären, was sich hinter dem seltsamen Namen eines regionalen Gerichts verbirgt. Irgendjemand an einem Nebentisch kommt ihm stets zuvor.
    Aber diese Hilfsbereitschaft verbindet sich nicht mit Fragen nach meinem Woher und Wohin. Das Angebot der Hilfe ist auch keineswegs ein Versuch, ins Gespräch zu kommen. Wenn ich freundlich danke und sage, ich käme schon alleine zurecht, dann war´s das. Dann zieht der barmherzige Samariter seines Weges. Das tut er übrigens wenig später auch, wenn ich die angebotene Hilfe annehme. Die Leute am Nebentisch sind gerne bereit, mir zu sagen, was ich erwarten darf, wenn ich eine bestimmte Speise bestelle. Damit beginnt und endet unsere Beziehung. Sie wollen keineswegs den Rest des Abends mit mir verbringen. Ist es das, was so viele meiner Landsleute meinen, wenn sie sagen, die oberflächliche Freundlichkeit der Amerikaner gehe ihnen auf die Nerven? Ich finde diese Art der Freundlichkeit nicht oberflächlich. Nur präzise.
    Unmittelbar vor Beginn meiner mühseligen Suche nach einem Motel habe ich in einem kleinen Supermarkt ein Karten-Handy gekauft. Es war, niemanden wird es mehr überraschen, der einzige Laden im weiten Umkreis, und die beiden Verkäuferinnen hatten genug damit zu tun, die Kunden zu bedienen. In Deutschland besitze ich kein Handy. Zunächst hatte ich mir aus Faulheit keines angeschafft, später aus Trotz, und außerdem gefiel ich mir in der Rolle der Exzentrikerin ganz gut. Was bedeutet: Ich hatte keine Ahnung von den meisten Funktionen und wusste auch nicht, wie ich das Telefon in den USA überhaupt in Betrieb nehmen sollte. Technisches Verständnis ist nicht gerade meine Stärke. Die jüngere der beiden Verkäuferinnen ging mit mir zu einem Seitentisch und erklärte mir die Bedienung. Geduldig, freundlich, gelassen. Die ältere übernahm unterdessen ihre Arbeit mit. Am Schluss gab mir meine »Lehrerin« ihre eigene private Handynummer: »Wenn Sie nicht zurechtkommen, rufen Sie mich einfach an.« Das Ganze dauerte eine knappe Dreiviertelstunde. Trinkgeld wollte die Verkäuferin nicht annehmen. »Das müssen Sie wirklich nicht tun.«
    Man sollte zurückhaltend damit sein, Umgangsformen und Verhaltensweisen im Alltag auf kollektive historische Erfahrungen zurückführen zu wollen. An solchen Analysen kann man sich leicht verheben. Aber in diesem Fall sei die Vermutung gewagt: Ich bin überzeugt, dass sich das Ausmaß und die Grenzen der nordamerikanischen Hilfsbereitschaft ohne die Geschichte der Pioniere nicht erklären lassen. Das Wissen, dass Fremde auf Unterstützung dringend, sogar existenziell angewiesen sein können – und dass man gelegentlich selbst ein Fremder ist –, ist in der Gesellschaft tief verwurzelt. Angenehm für eine Reisende.
    Aber an diesem Herbsttag, der vor einer langen Fahrt in den Winter liegt, geht es nicht um Hilfsbedürftigkeit. Sondern darum, überhaupt erst einmal anzufangen mit dem, was man sich vorgenommen hat. Also die Geschichten aufzuspüren, die am Wegesrand liegen. Kühl und selbstbewusst hatte ich jedes Angebot aus dem Bekanntenkreis ausgeschlagen, mir Kontakte, Anlaufadressen und Gesprächspartner zu
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