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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts
Autoren: R Lappert
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Einbruch der Dunkelheit zurückkehren. Er stellte die Koffer in einen Schrank, bedeckte sie mit einigen der löchrigen Jutesäcke, die herumlagen, und drückte die schief in den Angeln hängenden Türen zu. Dann hob er die Eisenstange auf und kletterte aus dem Fenster.
    Der Himmel war an manchen Stellen heller als an anderen, eine frisch gestrichene Wand, die rasch trocknete. Tobey legte den Kopf in den Nacken und sah eine Weile ratlos nach oben. In Irland hatte er immer genau gewusst, wie sich das Wetter entwickeln würde, welche Wolken Regen brachten und welche nur über die Hügel landeinwärts zogen, wann der Wind harmlos bleiben und wann er zu einem Sturm anwachsen würde, ob man die Auswirkungen eines Tiefdruckgebiets einen Tag oder eine Woche ertragen musste. Seine Stimmung schwankte mit dem Luftdruck, etwas in seinem Schädel reagierte auf meteorologische Veränderungen mit der Genauigkeit eines hochentwickelten Apparats. Tobey wusste zwanzig Stunden im Voraus, wenn eine Gewitterfront nahte, spürte Hagel, der über dem County Cork niederging, und Schnee, der sich auf die MacGillycuddy’s Reeks legte. An strahlend blauen Nachmittagenhatte er manchmal mit seiner Schwester gewettet, dass am Abend ein Orkan die morschen Äste von den Bäumen brechen würde, und jedes Mal recht behalten. Er hatte sich unter den erstaunten Blicken seiner Freunde eine Zeitung auf den Kopf gelegt, Sekunden bevor aus dem vermeintlich klaren Himmel dicke Tropfen eines Platzregens fielen. Und er hatte heimlich über seinen Vater gelacht, der nach dem Frühstück das halbe Scheunendach abdeckte, um es zu reparieren, obwohl es noch vor dem Mittagessen wie aus Eimern schütten würde.
    Aber in diesem Erdteil funktionierte Tobeys Apparat nicht. Hier erwachte er morgens mit demselben dumpfen Gefühl im Kopf, mit dem er sich abends hinlegte. Hier konnte er sich auf die Farbwechsel des Himmels keinen Reim machen, wusste mit dem Aufbrausen und Abflauen des Windes nichts anzufangen und las die Wolken wie ein Fünfjähriger das Alphabet.
    Das Licht ließ ihn blinzeln. Er rieb sich die Augen und ging auf die schattig dunkle Öffnung im Wäldchen zu, in die der Weg hineinführte. Von den Tieren, die während der Nacht die Insel mit einem Klangteppich belegt hatten, war nichts zu hören. Gelegentlich krächzte ein Vogel, dem Tobeys Anwesenheit missfiel, oder das Surren von Insektenflügeln drang durch die Blätterwand. Alles übrige Leben schien zu ruhen, ermattet von der Hitze. Der Boden, auf den kaum ein Sonnenstrahl traf, war weich und feucht und roch süß nach Fäulnis.
    Noch bevor er die Lichtung erreichte, hörte er das Gackern von Hühnern. Er blieb stehen und lauschte, und für einen Moment sah er den Hof vor sich und das Haus und die Scheune, und er sah Megan, die zwischen dem Federvieh herumhüpfte und Lieder sang. Er hörte ihre trällernde, immer leicht heiser klingende Stimme und die hohen Laute der Hennen, falsche Töne in einer simplen Melodie. Tobeys Herz krampfte sich zusammen, und er merkte, wie die Tränen in ihm aufstiegen. Er lehnte sich gegen einen der dunklen, glatten Stämme und schloss die Augen. So stand er eine Weile da, atmete tief ein und aus und wartete, bis der Druck in der Brust nachließ und Megans Singsang verklungen war.
    Schließlich stand er am Ausgang des Tunnels, wo Licht ins düstere Grün drang. Ein Lufthauch strich über sein Gesicht, kaum stark genug, um die äußersten, von der Sonne beschienenen Blätter zu bewegen. Er blieb imSchutz der Bäume und blickte über die Fläche trockener Erde, an deren mit Grasbüscheln bewachsenen Rand eine Handvoll Hühner scharrte und pickte, magere braune Tiere, jedes für sich eingehüllt in einen zarten Schleier aus Staub. Ihre glucksenden Laute klangen wie Selbstgespräche, einsilbige Klagen über die Hitze, das karge Futterangebot und das Leben im Allgemeinen. Eine tief eingefahrene Reifenspur zog sich über den Platz, an dessen Ende, etwa hundert Meter von Tobey entfernt, ein Holzmast aufragte, die Spitze gekrönt von einer Antenne, einem zerfledderten Baum mit dürren, rostroten Ästen. Daneben stand eine Hütte, der die Tür und die Fensterscheiben fehlten. Ein umgeworfener Stuhl lag vor der Behausung, unter Gras und Sträuchern verschwand ein schiefer Zaun.
    Als sich auch nach einigen Minuten keine Menschenseele blicken ließ, trat Tobey in die Helligkeit, überquerte hastig den Platz und kauerte sich neben den Mast. Er hob einen Stein auf, warf ihn durch eine
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