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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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hieven, das probiert er seit Tagen, aber – maritim gesprochen – es verfängt nicht so ganz, das Thema. Mit Ausnahme seiner umständlich gedrechselten Nachtragsschlagfertigkeit zum vorabendlichen Gestotter scheint er heute nichts unterbringen zu können. Vielleicht geht es so: Er vermute das SED-Vermögen in Liechtenstein, sagt Naumann nun, einmal mehr einen Tick zu raffiniert. Er guckt sich stolz um, haben es alle gehört? SED-Vermögen! In Liechtenstein! Soviel zur Linken, soviel zu Liechtenstein – und beides in einem, das war doch jetzt wirklich nicht schlecht?
    »Im klassischen Sinne des Wortstamms« möchte Naumann nun noch irgendwas verstanden wissen. Die Journalisten schreiben so was aber nicht mehr mit, sie haben Naumann immer wieder geduldig zugehört in den letzten Monaten, und irgendwann reicht es dann auch, Becks Bierzeltrhetorik und Steinbrücks gutgelaunte Brutalkürze lassen sich einfach besser zitieren.
    Im »Billstedt-Center«, einem großen Einkaufszentrum in einem Stadtteil mit eher geringer Segler-Dichte, warten zwischen Eiscafé, Parfümerie, Discount-Kleiderladen und Mobiltelefon-Geschäft an einem SPD-Stand Wahlkampfhelfer mit Eimern voller roter Rosen auf Beckund Naumann. Auch Gerda Grossmann steht dort, sie ist seit 49 Jahren SPD-Mitglied, hat einen Zitronenkuchen gebacken und schneidet schon mal ein großes Stück für den Kandidaten zurecht. Als Naumann ankommt, sagt er leise, er wolle jetzt ins Bett. Blumenbündel werden ihm gereicht, auf geht’s, Gerda Grossmann steht da mit ihrem Stück Kuchen, hält es Naumann hin, doch zwischen ihrem Gesicht und seinem baumelt ein Plakat, »70 % sind mit der Hamburger CDU-Bildungspolitik unzufrieden« steht da drauf – und so kommen sie nicht zueinander. Straßenwahlkampf kennt keine Metaebene, aber das Einkaufszentrum hat mehrere Etagen. Naumann geht wie in Trance an den Läden vorbei und drückt den Einkaufenden Blumen in die Hand: »Guten Tag, darf ich Ihnen eine Blume schenken, bitteschön. Gehen Sie wählen am Sonntag?« Die Menschen murmeln zurück, es ist ein beiderseitiges Kopfschütteln. »In einer Zeit, wo nur noch E-Cards verschickt werden, kommen so echte Blumen gut an«, sagt Sprecher Beling, mit Nachschubblumen im Arm neben Naumann herlaufend.
    Naumann bleibt kurz stehen, schüttelt den Kopf: »Die Bürokratie in der Behörde ist derart komplex, dass man von Chaos sprechen kann.« Jemand hatte ihm gerade im Tausch gegen die Blume seinen Ärger mit dem Wohnungsamt dargelegt. Ein Mädchen sagt jetzt zu Naumann: »Ich so zu meiner Lehrerin heute: ›Ich geh nicht wählen.‹ Und sie dann so: ›Wirf deine Stimme nicht weg‹ und so. Und ich dann so zu ihr: ›Ja, wieso, ich kenn mich doch mit Politik gar nicht aus‹, und dann meinte sie nur so: ›Trotzdem‹.« Naumann nickt und schlägt vor: »Dann wählen Sie doch einfach den, der Ihnen diese schöne Blume geschenkt hat! Michael Naumann heiße ich.« Das Mädchen kreischt auf: »Sie sind Naumann? Voll krass!«
    Eindrucksvolle Begegnungen seien das zum Teil, sagt Naumann. Und als Beweis repetiert er zum aberhundertsten Mal den unterwegs aufgesogenen Biographien-Nektar: Ein Ehepaar, das mit seiner Tochter auf 60 Quadratmetern wohnt – und dann die Deutsch-Russin in Hamburg-Bergedorf, Stalingrad überlebt!
    Auf der Höhe des Imbiss-Standes »Potato Point« trifft Naumann auf den ebenfalls Blumen verteilenden Kurt Beck. »Ich zisch ab, wir sehen uns heute Abend«, sagt Naumann erschöpft. Beck nickt, Naumann verlässt das Einkaufszentrum – und Beck verteilt weiter Blumen, es käme ihm nie in den Sinn, eine einzige Blume unverteilt zu lassen, »so, noch zur Frau, die hier die Leude satt macht«, dröhnt der Parteivorsitzende im Selbstgespräch gemütlich vor sich hin und gibt der Verkäuferin des Potato Points eine Rose.
    Als »weltgewandt, schlagfertig und intellektuell« war Michael Naumann den Zuschauern des TV-Duells vorgestellt worden. Der Moderator sagte zu Naumann, er habe sich ja nun »in die Niederungen der Politik« hinabbegeben. Darauf entgegnete Naumann, jedes vierte Kind lebe in Armut.
    Hellmuth Karasek, der Naumann lange kennt, sagt, ihn erinnere Naumanns Mission an Karlheinz Böhms Aufopferung für Afrika. Als er Naumann vor einiger Zeit mal gefragt habe, wie es ihm gehe, habe der geantwortet, es gehe ihm gut, er habe übrigens sieben Minuten Beifall bekommen für eine Rede. Karaseks Frau sagt lächelnd, ein Hamburger Bürgermeister müsse gut aussehen in einem blauen
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