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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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regiertes Volk, es steht nach wie vor schlimm um unser Land – nicht auszudenken, was erst geworden wäre, wenn wir Grass nicht gehabt hätten.
    Und es ist ihm wohl nachzusehen, dass das verlässlich große Echo auf all seine stets hochwichtigen Debattenbeiträge, Großpodiumsverlautbarungen und all die »Streitgespräche« mit Augstein, Brandt und wem immer zwangsläufig dazu führen musste, dass er sich ganz selbstverständlich für das Nationsgewissen hält – wer so viel Gehör bekommt, wird taub für die eigenen Fehler und Irrtümer; wer derart im Licht steht, wird blind.
    Den vorgetragenen Tagebuchpassagen zufolge war die entscheidende Frage des Jahres 1990, ob Günter Grass seine SPD-Mitgliedschaft würde aufrechterhalten können oder nicht.
    »In die Suppe spucken« möchte Grass mit diesem Buch, und zwar allen Wiedervereinigungs-Festrednern, das hat er in den letzten Wochen immer wieder gesagt, und er sagt es auch an diesem Abend. Dass derart notorisches Ein- und Mitmischen, wie er es sich zur Gewohnheit gemacht hat, eine Grundzutat jener gemeinten Suppe ist, fällt ihm offenbar nicht mehr auf.
    Bisschen blättern im Kempowski: »An Grass trauen sie sich nicht ran. Der große Rauner faselt von Auschwitz, dass uns die Ermordung der Juden verpflichte, die Teilung aufrechtzuerhalten. (…) Was die Teilung Deutschlands mit Auschwitz zu tun hat, kann einem niemand erklären. Die schreien einen gleich an, wenn man danach fragt.« Dazu kommt es dann: Nach 90 Minuten Tagebuch- und Levitenlese soll diskutiert werden. Da sich zunächst niemand meldet, nehme ich mein Kempowski-Buch als Muthalt in die Hand, erbitte das Mikrophon und spucke also in die Suppe. Ich habe darin nicht so viel Übung wie Günter Grass, daher bin ich nervös und kann mich natürlich nicht an den Wortlaut meiner »Einmischung« erinnern. Sagen jedenfalls wollte ich:
    Es ist läppisch, was wir hier über das Jahr 1990 gehört haben, verglichen mit Kempowskis Tagebuch desselben Jahres. Mich macht es zornig, wie Kempowski abgetan wurde als rechter Spinner, auch und gerade von Grass. Es ist ein Skandal, dass in unserem Deutschunterricht vor lauter Grass und Christa Wolf nie Platz für Kempowski war. Kempowskis Tagebücher sind so viel besser geschrieben als dieses von Grass, und sie enthalten viel Mutigeres und Interessanteres zur Wiedervereinigung, und man kann nur staunen, wie diametral zur literarischen Bedeutung die Aufmerksamkeit in Deutschland verteilt wurde. Und es ist doch einigermaßen verwunderlich, dass Kempowski zeitlebens vergeblich darauf warten musste, seine Jahre im Bautzener Zuchthaus als politische Haft anerkannt zu bekommen, und dass Grass ihm nie zur Seite gesprungen ist, was ihm doch ein Leichtes gewesen wäre! Und dass er, Grass, hier daherlabern darf, wie er mit Pfarrer Führer über Deutschland nachdenkt, und kurz drauf dann seiner Verwundung als 17-jähriger Waffen-SS-ler am 20. April, dem Geburtstag des Adolf Führer, gedenkt. Dass das einfach so durchgeht! Dass dieser Grass dieses Rederecht hat!
    Das kommt natürlich nicht gut an im Saal, klar. Ich bin jetzt der Partyschreck, die Nervensäge. Unangenehm. Grass kann die Sache routiniert abbügeln, bekommt Applaus, und dieser Applaus sagt: Du Blödmann da, sei still, lass unseren Günter in Ruhe. Kempowski sei doch ein fleißigerAutor gewesen, und es sei doch schön, dass so verschiedene Ansichten und Bücher existierten, gibt Grass mir mit auf den Weg.
    Andere Fragen, bitte? Natürlich: Wie genau war das noch mal mit der Treuhand? Was ist mit der SPD los, was ist von der Linken zu halten, ist es nicht ein Skandal, dass in Ost und West noch immer unterschiedliche Löhne für die gleiche Arbeit gezahlt werden? Kann er alles erklären da vorn. Spricht hier eigentlich ein Altkanzler oder ein Schriftsteller, fragt man sich dann doch.
    Ich probiere es noch einmal mit Kempowski, wohl wissend, dass es spätestens jetzt nervt. Ich solle bitte einsehen, dass wir in einer Demokratie leben, belehrt Grass mich und sorgt dafür, dass ich ausgelacht werde. Störer lächerlich zu machen, ist für einen Bühnenprofi die leichteste Übung.
    Dahinten bitte, ja, noch eine Frage? Die Heuschrecken auf dem Cover. Ach so, natürlich, alles so simpel wie irgend möglich, tatsächlich führt Grass nun Müntefering an, die Heuschrecken, Hedgefonds also, und immer so weiter. Er als über 80-jähriger, holt Grass dann noch mal ganz groß aus, fordere uns junge Leute auf, Widerspruch anzumelden und
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