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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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Mom sagte, es habe »saubere, moderne Konturen«. Die zahllosen Fenster brauchten wir ihrer Ansicht nach, um »die Natur hereinzuholen«. Meine Großmutter warf ihr immer vor, das Haus sei zu groß und spartanisch und potthässlich, aber nichts, was man sagte, konnte Mom von ihrer Besessenheit abbringen. Drei lange Jahre hatte eine ganze Armee von Handwerkern gebraucht, um es fertigzustellen. Ich hatte mehr Nachmittage, als mir lieb war, auf der Baustelle verbracht, hatte die Dünste von Farbe und Terpentin eingeatmet und mir ständig Sägemehl aus dem Haar gewischt. Während ich unter den Bäumen meine Hausaufgaben machte, scheuchte meine Mutter Klempner, Elektriker und Zimmerleute herum. In dieser Zeit entwickelte ich eine unglaubliche Konzentrationsfähigkeit. Um mich herum wurde unablässig gehämmert und gesägt, aber ich schaffte es trotzdem, dabei zu lernen.
    Kents Schwester wartete in der gefliesten Eingangshalle, während ich ihr zwei große weiße Handtücher holte.
    »Die sind aber flauschig«, sagte sie. Nachdem sie sich das Haar ausgewrungen hatte, rieb sie sich mit den Handtüchern trocken.
    »Frisch und sanft wie ein Frühlingsmorgen«, zitierte ich aus einem kreuzdämlichen Werbespot für Weichspüler, der zurzeit ständig im Fernsehen lief. Sie lachte.
    Ich sah zu, wie sie sich weiter abtrocknete. Ich hätte gern noch mehr über die Typen mit dem Floß erzählt, weil mich diese Geschichte tagelang beschäftigt und mir das Gefühl gegeben hatte, zusammen mit ihnen auf dem Ozean zu sein. Aber jetzt dachte ich, dass das Ganze sie vielleicht doch nicht interessierte. Vielleicht war sie bloß höflich gewesen.
    »Darf ich mich ein bisschen umsehen?«, fragte sie.
    »Denke schon.« Meine Mutter hatte für sämtliche Freunde und Verwandten Führungen durchs Haus veranstaltet, aber dem hatte ich nie große Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl mir aufgefallen war, dass spätestens nach dem dritten Zimmer alle ganz glasige Augen bekamen. Doch wenn dieses Mädchen sich tatsächlich das Haus ansehen wollte (um nach nicht vorhandenen Champagnerbrunnen zu suchen?), hatte ich nichts dagegen. »Möchtest du trockene Kleidung? Ich könnte dir ein T-Shirt oder so was geben.«
    »Nein, danke. Ist schon okay.«
    Sie folgte mir durch das Wohnzimmer, dessen eine Wand aus Glas bestand. Der Teppichboden und die Möbel hatten eine blasse, an Vanille erinnernde Farbe, weil meine Mutter meinte, die Aussicht müsse der »Brennpunkt« des Zimmers sein. Nicht dass ich Kents Schwester was von Brennpunkten erzählt hätte. Ich sagte überhaupt nichts. Konnte ja sein, dass sie gerade dabei war, alles zu registrieren, damit sie den Nachbarn berichten konnte, wie es im Haus des Verrückten aussah. Doch dann streckte sie plötzlich die Arme in Richtung Fenster und sagte: »Die Bäume sind richtig da . Du musst das Gefühl haben, direkt im Wald zu leben.«
    Sie wollte alles sehen, von den Badezimmern bis zum Besenschrank. Der Besenschrank war vielleicht tatsächlich auf bizarre Weise interessant, weil er ganz deutlich zeigte, wie zwanghaft jemand in unserer Familie war: Die Besen und Mopps standen alle in Reih und Glied, die Staubtücher lagen penibel zusammengefaltet in den Regalen. Das war aber auch das einzig Faszinierende daran.
    Ohne an der Schwelle haltzumachen, marschierte sie schnurstracks in mein Zimmer. Ob sie wusste, dass sie das erste weibliche Wesen unter vierzig war, das hier einen Fuß hineinsetzte? Sie stupste den Globus auf meinem Schreibtisch an, sodass er sich drehte. Ich hielt ihn wieder an, wobei meine Finger auf Grönland liegen blieben. Sie betrachtete meine Hand, die auf dem Globus ruhte, und plötzlich hatte ich den Eindruck, dass sie nicht nur das Haus inspizierte, sondern auch mich.
    Die Luft zwischen uns verdichtete sich. Mit einem Mal nahm ich meine eigenen Atemzüge wahr. Waren sie lauter als sonst? Und, falls ja, fiel ihr das auf?
    Ich beobachtete, wie sie den Blick über meinen Computer, meine Bücherregale und die Wände wandern ließ, die, abgesehen von einem Bild, das Val während der Therapie gemalt hatte – eine abstrakte Darstellung blauer und purpurfarbener Wirbel –, kahl waren. Ich fuhr oft mit den Fingern über diese samtigen Wirbel, als könnte ich auf diese Weise Vals Haut berühren. Als hätte sie einen Teil ihres Körpers in das Bild übertragen.
    »Na, wie findest du’s?«, fragte ich Kents Schwester, weil ich es satthatte, mir darüber Gedanken zu machen, was ihr ständig wechselnder
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