Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Asylon

Asylon

Titel: Asylon
Autoren: Thomas Elbel
Vom Netzwerk:
einmal zusammengestaucht, um Poosah die schlimmsten
Geschichten zu ersparen. Doch die fühlte sich in ihrer kindlichen Naivität von
dem mütterlichen Vertrauen geradezu geadelt, und das Einvernehmen der beiden
hatte Saïna schließlich resignieren lassen, zumindest was diesen Punkt
anbelangte.
    Umso mehr hatte die Kleine unter
der ungewohnten Geheimniskrämerei ihrer Mutter hinsichtlich des Ordo Lucis
gelitten. Ein paar dubiose Andeutungen, die Lynn in schwachen Momenten hatte
fallen lassen, hatten ihre kindliche Neugier erst richtig befeuert. Doch obwohl
Poosah ihr deswegen leid getan hatte, war Saïna letztendlich froh darüber
gewesen, dass Lynn die Kleine, von solchen Ausrutschern abgesehen, nicht mehr
in ihre neurotischen Spinnereien hineingezogen hatte.
    »Warum hat sie mich nicht
mitgenommen?«
    Saïna schluckte. Sie hatte die
Frage kommen sehen. Doch was sollte sie sagen? Die Wahrheit? Deine Mutter hat sich nie wirklich um dich geschert. Du bist ein
Teil genau jener Welt, von der sie sich befreien will. Sie hat dich
zurückgelassen wie ein langweilig gewordenes Kuscheltier.
    Mochte Lynns Sehnsucht nach einem
verborgenen Paradies noch verständlich sein, so war ihr Verhalten Poosah gegenüber
unverzeihlich. Fast war es, als ob Lynn die Kleine dafür büßen ließ, wie sie zu
ihr gekommen war. Mehr als einmal hatte es zwischen ihr und Saïna bitteren
Streit deswegen gewesen.
    Was kann das
Kind dafür?, hatte Saïna gefragt, doch Lynn hatte nur mit ihren eckigen
Schultern gezuckt, was, wie eine Nachbarin einmal schnippisch bemerkt hatte, im
Konfliktfall Lynns Standardantwort war.
    Am Ende hatte sich Saïna damit
abfinden müssen, dass die Liebe, die Lynn ihrer Tochter hätte entgegenbringen
müssen, sich nicht herbeischimpfen ließen, und sie hatte es aufgegeben. Von da
an hatte sie versucht, Poosah so gut es ging vor der Wahrheit abzuschirmen.
Nein, sie sollte es nie hören müssen, nun erst recht nicht.
    »Sicher wollte sie dich nur nicht
in Gefahr bringen, Süßes. Vielleicht gibt es die Lichtmänner überhaupt nicht,
oder sie sind in Wirklichkeit böse.«
    Das Mädchen befreite sich von
ihrer Umarmung. »Du glaubst ihr nicht.« Ihre schwarzen Augen blitzten auf
einmal vor wütendem Temperament.
    Sie ist wie
ihre Mutter.
    »Du hast Mama nie geglaubt«,
setzte Poosah trotzig hinzu.
    »Schätzchen, es spielt keine
Rolle, was ich geglaubt oder nicht geglaubt habe …«
    »Darum ist sie fort gegangen.
Weil wir ihr nicht zugehört haben.« Poosah schrie. Wieder hämmerte es gegen die
Wand des Zimmers.
    Tranh, du
syphilitische Made.
    Irgendein Mitglied der
siebenköpfigen russischen Familie über ihnen fiel in das Geklopfe ein. Es
klang, als ob sie in einer Trommel wohnten. Für einen Moment wollte sich Saïna
die Decke über den Kopf zerren und so tun, als wäre sie ganz allein auf der
Welt. Stattdessen zog sie das strampelnde Mädchen zu sich aufs Bett und hielt
sie so fest sie konnte. Eine Weile lang wehrte sich Poosah, schrie und
schluchzte, dann verloren ihre Bewegungen immer mehr an Kraft, und schließlich
lag sie in Saïnas Armen wie ein lebloses kleines Bündel, aber immer noch
glühend vor Hitze. Nur dann und wann hob ein weiterer Schluchzer ihre kleine
Brust.
    Saïna begann, ein Lied zu summen.
Irgendeine hübsche kleine Melodie, wie sie es einmal abends bei einem Besuch
zwei Ebenen höher bei Radu gehört hatte, deren kleiner Sohn unter grausigen
Albträumen litt. Saïna kam sich dumm und fürchterlich unbeholfen vor, doch es
funktionierte. Ein kleiner Arm schlang sich um ihren Hals, und bald spürte sie
die sandige Trockenheit von Poosahs Krauskopf an ihrer Wange.
    Armer kleiner
Engel.
    Dann kamen die Worte einfach so
über ihre Lippen. Es war, als ob jemand anders mit ihrer Stimme sprach.
    »Wir werden sie finden. Ich
verspreche es dir.«

    Yvette rollte sich auf
die andere Seite. Wahrscheinlich zum hundertsten Mal, seit sie ein kräftiger
Tritt ihres ungeborenen Kindes um etwa vier Uhr aus dem Schlaf gerissen hatte.
Nebenan, nur durch eine Art spanische Wand von ihr getrennt, schnarchte eine
Patientin in enormer Lautstärke. Yvette stellte sich vor, wie sie herübergehen
und ihr ein Kissen aufs Gesicht drücken würde. Die Hüfte, auf der sie lag,
schmerzte vom zusätzlichen Gewicht, und sie drehte sich wieder zurück. So ging
es nun schon seit Stunden. Sie versuchte sich die Zeit ins Gedächtnis
zurückzurufen, als ein Kind von Torn ihr sehnlichster Wunsch gewesen war. Es
kam ihr auf einmal mehr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher