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Asylon

Asylon

Titel: Asylon
Autoren: Thomas Elbel
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zauberten ihre dunklen Locken
silbrig-blaue Streifen in das Zwielicht.
    »Wo ist deine Mutter?«
    Poosahs Augen begannen, feucht zu
schimmern.
    »Ist sie wieder nicht nach Hause
gekommen?«
    Tränen kullerten über das kleine
Gesicht. »Sie ist weggegangen. Für immer.«
    Saïna rutschte auf die Bettkante
und zog den kleinen Kopf an ihre Brust. Poosahs Stirn glühte. »Aber nein, meine
Kleine. Wie kommst du denn darauf?«
    »Weil sie es gesagt hat!«, stieß
die Kleine schluchzend hervor.
    Nebenan krachte etwas gegen die
dünne Gipswand.
    »Reg dich ab und geh schlafen,
Tranh!«, rief Saïna ihrem Nachbarn zu. Eines Tages will ich
eine Wohnung mit richtigen Wänden und mit Fenstern, durch die das Licht fällt!
    Sie seufzte und wandte sich wieder
dem Mädchen zu, über dessen dunkle Wangen die Tränen mittlerweile wie schwarze
Bäche strömten.
    »Was hat Lynn gesagt, Poosah?«,
flüsterte sie.
    Tapfer schluckte das Mädchen
einen weiteren Schluchzer herunter. »Mama hat gesagt, dass sie nach draußen geht
und nie wieder zurückkommt.«
    Saïna beschlich eine dunkle
Ahnung. Konnte es wirklich sein, dass …? »Wohin
draußen?«
    »Aus der Stadt raus, in die
andere Welt.«
    »Welche andere Welt? Dort draußen
ist nichts, mein kleiner Engel. Nur Wüste und viele sehr arme, hungrige
Menschen.«
    »Nein! Es ist viel schöner da
draußen. Sie haben es ihr gesagt.«
    »Wer hat es ihr gesagt?«, fragte
Saïna, die nicht wahrhaben wollte, dass sich ihre beste Freundin endgültig
diesem Irrsinn verschrieben hatte.
    »Die Lichtmänner.«
    Saïna schüttelte deprimiert den
Kopf. Lichtmänner. So hatte die Kleine sie genannt, seit Saïna ihr erklärt
hatte, was der Name Ordo Lucis bedeutete. Nicht, dass
sie auch nur einen Moment geglaubt hatte, was Lynn ihr über die angebliche
Geheimorganisation erzählt hatte. Was für Kerle auch immer dahinterstecken
mochten, es waren nur Rattenfänger, auch wenn Saïna nie begriffen hatte, zu
welchem Zweck sie das Gerücht in die Welt gesetzt hatten, jenseits der Grenze
würde es irgendetwas anderes als Dürre und Elend geben. Wahrscheinlich waren es
Perverse, die sich daran erfreuten, falsche Hoffnungen zu wecken und Menschen
zu enttäuschen. Davon gab es in der Stadt einen unerschöpflichen Überfluss.
    Und Lynn? Sie hatte die Gerüchte
über den Ordo Lucis und das Paradies jenseits der Grenze, förmlich aufgesogen.
Kein Wunder, fand sie sich dadurch doch in ihren wirren Visionen eines früheren
Lebens jenseits der Stadt bestätigt. Viele Bewohner der Stadt litten unter
solchen Scheinerinnerungen. Man führte das Phänomen allgemein auf die Enge und
die Entbehrungen zurück, die das Leben in der Stadt für die Normalbewohner mit
sich brachte. Offenbar neigte der menschliche Geist dazu, sich eine bessere
Welt zu erträumen, und das umso mehr, je prekärer die Lebensumstände waren.
    Doch Lynn hatte sich mit solchen
Erklärungen nicht mehr zufrieden geben wollen. Sie hatte angefangen, dem Ordo
Lucis nachzuspüren. Als sie dann versucht hatte, Saïna für ihre Jagd nach der
besseren Welt zu gewinnen, hatte diese sie nur ausgelacht. Fortan hatte Lynn
ihre Hirngespinste für sich behalten, worüber Saïna alles andere als böse
gewesen war. Zwar hatte sie sich insgeheim weiter über die naive Verbohrtheit
geärgert, mit der Lynn daran festhielt, dass es irgendwo einen Garten Eden
geben musste, aber die Dankbarkeit gegenüber ihrer Freundin hatte ihren
erzieherischen Ehrgeiz überwogen. Hätte Lynn sie damals nicht aufgenommen, wäre
Saïna irgendwo in den Gängen der Stadt verhungert, oder die Mastons hätten noch
Schlimmeres mit ihr angestellt.
    So hatte sich eine Art
stillschweigende Übereinkunft zwischen ihr und Lynn entwickelt, den Ordo Lucis
und alles, was damit zusammenhing, nie wieder anzusprechen, auch wenn das
bedeutet hatte, dass ihre Freundin von Tag zu Tag mehr kleine Geheimnisse vor
ihr hatte.
    Die Einzige, die jedoch unter
Lynns zunehmender Schweigsamkeit litt, war Poosah. Ohne erkennbaren Grund hatte
Lynn ihr Schweigen auch auf ihre kleine Tochter ausgedehnt. Das war
ungewöhnlich, denn normalerweise teilte Lynn alles mit ihrer Tochter. Und da es
Lynn im Regelfall völlig egal war, wie unangemessen die Themen, über die sie
sprach, für die Kleine sein mochten, hatte Poosah mit ihren acht Jahren ein
erschreckend konkretes Wissen über die Arbeit einer Tänzerin in einem Nachtclub
und die Art von Begegnungen, die man dort mit Männern hatte. Saïna hatte Lynn
deswegen mehr als
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