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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit
Autoren: Peter Scholl-Latour
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die Schwelle Marokkos, am Roten Meer bis in die Nachbarschaft Adens. Vom irakischen Hafen Basra aus beherrschte es den Per­sischen Golf, und auf dem Balkan reichte das Einflußgebiet der ­Hohen Pforte im bosnisch-muslimischen Bihac΄ bis in die Nähe des heutigen Sloweniens. Schon beeilen sich die Europäer, den revoltierenden Arabern zu raten, dem Beispiel der postkemalistischen Türkei nachzueifern, die im Parlament von Ankara die islamische Ausrichtung der Regierungspartei AKP mit den sakrosankten Vorstellungen westlicher Demokratie zu versöhnen scheint.
    Als unmittelbar Betroffene sehen die Politiker Israels die Dinge aus einem ganz anderen Winkel. Durch die Verkrampfung der Regierung Netanjahu-Liebermann, durch die Fehlleistung Zahals beim Kapern eines türkischen Schiffes, durch die Blockade von Gaza hat die Koalition von Jerusalem den Zorn des neuen Sultans von Istanbul beziehungsweise von Ankara herausgefordert. Seitdem befürchtet Washington, daß Erdog˘an mit seiner Kehrtwende gegen den israelischen Partner von einst Einfluß auf die antizionistische Wut der arabischen Massen zu gewinnen sucht. An der Sinai-Grenze ist die Zeit einer heimlichen, aber engen Komplizenschaft des Judenstaates mit dem Rais Mubarak und dessen Geheimdienstchef Omar Suleiman jäh zu Ende gegangen. Jedes künftige Regime von Kairo wird auf die Israel-feindliche Stimmung der Bevölkerung Rücksicht nehmen müssen. Schon kam es zu Schießereien am Rande des Negev. Im Norden schwelt zwar eine tiefe Feindschaft zwischen Syrien und Israel, aber die eiserne Faust der Assad-Diktatur hatte es stets verhindert, daß an der Demarkationslinie auf den Golan-Höhen bei Kuneitra auch nur ein einziger Schuß abgefeuert wurde. Das dürfte sich nach einem Wechsel in Damaskus gründlich ändern.
    Schon wird von einer Achse Ankara–Kairo gesprochen. In Saudi-Arabienkönnte dabei die Erinnerung an jene Strafexpeditionen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts aufkommen, die der Vize-König und Khedive Mohammed Ali von Ägypten im Auftrag des Sultans und Kalifen von Istanbul unter dem Befehl seiner Söhne Tüsün und Ibrahim Pascha gegen den Beduinen-Aufstand der Wahhabiten-Sekte in die Einöde des Nedjd ausschickte. Diese Wüstenkrieger, aus denen die Dynastie des Hauses El Saud hervorging, standen damals im Verdacht, die Heiligen Stätten von Mekka und Medina besetzen zu wollen. Wenn sich in Zukunft eine Interessengemeinschaft zwischen Türken und Ägyptern gegen Saudi-Arabien herausbilden sollte, ginge es nicht um die Heilige Kaaba und das Grab des Propheten, sondern um den ungeheuer­lichen Erdölreichtum dieses Königreichs, der bislang zur schamlosen Erpressung und Korrumpierung all jener Staaten, der USA zumal, benutzt wurde, deren Energiebedarf nicht zu sättigen ist.
    Gewiß, das sind Spekulationen. Die Amerikaner können im Falle einer konsequenten Abkehr von ihrer nahöstlichen Einflußsphäre eine Schwerpunktverlagerung zum Pazifik vollziehen oder in einen Isolationismus zurückfallen, der lange genug ihre außenpolitische Richtschnur war. Für die Europäer hingegen, für die unmittelbaren Nachbarn dieser orientalischen Tumulte, geriete der Übergang des Arabischen Frühlings oder des arabischen Herbsts in einen frostigen arabischen Winter zu einer Belastung, der der zerstrittene Kontinent nicht gewachsen wäre. Das Abendland ist in keiner Weise gewappnet, den arabischen Ungewißheiten mit Gelassenheit, Selbstbewußtsein, Sachkenntnis und auch mit der nötigen Sympathie zu begegnen.

Maghreb
    Die Abgründe des Atlas
    Algerisches Requiem
    Algier, Mai 2011
    Eineseltsame Idee sei das, Betrachtungen über die Umsturzwelle, die die orientalische Welt umbrandet, mit einem Bericht aus Algerien zu beginnen. So hatten sich manche Bekannte geäußert, als ich im Mai in den zentralen und wichtigsten Staat des Maghreb aufbrach, der scheinbar von den Begeisterungsstürmen und den Enttäuschungen des »arabischen Frühlings« ausgespart blieb. Aber Algerien hatte seine »grüne Revolution« bereits hinter sich, als im Dezember 1991 die »Islamische Heilsfront« die Parlamentswahlen eindeutig gewonnen hatte. Durch einen Militärputsch war sie damals gewaltsam in den Untergrund verbannt worden.
    Aus dem bislang friedlichen »Jibhat el Islamiya lil Inqadh«, in der französischen Abkürzung FIS genannt,
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