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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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Empfindungen, die Graves’ Anblick in ihm ausgelöst hatten, mischte sich ein allmählich stärker werdender Zorn auf ihn selbst. Seine Reaktion war mittlerweile nicht nur nicht mehr angemessen, sondern eines Wissenschaftlers auch einfach unwürdig. Schließlich hatte er gelernt, die Dinge so zu betrachten, wie sie waren, und Fakten zu würdigen, nicht Emotionen. Und was Graves’ Anblick in ihm auslöste, das konnten nur Emotionen sein. Er hatte das Gefühl, ein durch und durch verkommenes Subjekt zu betrachten, ein heruntergekommenes, viehisches … Etwas , das den Namen Mensch nicht einmal mehr im Ansatz verdiente und nur Ekel und Widerwillen in ihm auslöste.
    Was seine bewusste Anstrengung nicht vollbracht hatte, das bewirkten diese irrationalen Gefühle: Mogens’ Zorn verrauchte auf der Stelle, und er spürte, wie auch seine Muskelspannung wich und sich selbst sein rasender Herzschlag wieder beruhigte. Vielleicht, weil er begriff, was in ihm vorging. Jonathan Graves war niemals ein angenehmer Mensch gewesen, aber diese extreme Reaktion tat selbst ihm Unrecht. Ganz offensichtlich war er nicht mehr in der Lage, Graves mit objektiven Augen zu betrachten. Er hatte in den vergangenen neun Jahren mehr oder weniger erfolgreich versucht, sowohl den Namen Jonathan Graves als auch das bloße Wissen um die Existenz des Trägers eben dieses Namens aus seinem Bewusstsein zu verbannen, aber nun wurde ihm klar, von wie wenig Erfolg dieser Versuch in Wahrheit gekrönt gewesen war. Er hatte Graves niemals vergessen, nicht eine Sekunde lang. Ganz im Gegenteil. Etwas in ihm hatte Graves für jeden Moment der Enttäuschung, jeden Augenblick der Frustration und jeden Tag der Verbitterung in neun endlosen Jahren verantwortlich gemacht, sodass er gar nicht mehr in der Lage war, ihn als menschliches Wesen zu betrachten.
    Er atmete hörbar ein, löste mit einer ganz bewusst langsamen Bewegung die Hände von der Stuhllehne und sah Graves fest in die Augen; etwas, was er vor zwei oder drei Sekunden noch nicht gekonnt hätte. »Ich frage dich noch einmal, Jonathan – was willst du hier?«
    »Es wird allmählich langweilig, Mogens«, seufzte Graves. »Du hast mein Telegramm doch gelesen, oder? Ich dachte, es wäre eindeutig genug. Ich bin hier, um dir eine Anstellung anzubieten.«
    »Du?« Obwohl Mogens im Glauben war, sich vollkommen in der Gewalt zu haben, schrie er das Wort fast. Das Telegramm war zwar im Detail bewusst vage, in seiner Aussage aber unzweifelhaft gewesen. Dass ihm Graves – ausgerechnet Graves  – eine Arbeit anbot, das war … grotesk!
    »Warum nicht?« Graves musste den hysterischen Ton in seiner Stimme gehört haben, aber er ignorierte ihn einfach. Was das anging, so hatte sich Graves in den vergangenen Jahren nicht im Mindesten verändert. Er war und blieb der unverschämteste Mensch, den Mogens je kennen gelernt hatte. »Wenn es jemanden gibt, mein lieber Mogens, der deine Fähigkeiten wirklich kennt, dann bin ich es. Oder willst du mir ernsthaft vormachen, dass du in diesem gottverlassenenNest eine Anstellung gefunden hast, die deinen Fähigkeiten entspricht?«
    »Ich habe eine Anstellung«, antwortete Mogens kühl. »Danke.«
    Graves machte einen undefinierbaren Laut, der sich aber irgendwie … unangenehm in Mogens’ Ohren anhörte. »Hör doch auf! Wir kennen uns wirklich lange genug. Wir müssen uns nun wahrhaftig nichts mehr gegenseitig vormachen! Ich hatte Mühe, dieses Kaff auf der Landkarte zu finden, und noch mehr Mühe zu glauben, dass es hier eine Universität gibt!«
    »Ich kann dir versichern, es gibt sie«, sagte Mogens.
    Graves machte ein abfälliges Geräusch. »Ja, ich weiß. Eine baufällige Bruchbude, die beim nächsten Windzug vermutlich umfällt. Das aktuellste Buch in der Bibliothek ist fünfzig Jahre alt und einige deiner so genannten Studenten sind älter als du!« Er nickte grimmig. »Du fristest deine Tage damit, verstaubte Papiere in einem fensterlosen Keller zu sichten, die niemanden auf dieser ganzen weiten Welt interessieren. Dein Gehalt reicht mit Mühe und Not für diese jämmerliche Unterkunft, und du bekommst es nicht einmal regelmäßig. Du bist hier lebendig begraben, Mogens. Und manchmal fragst du dich, ob du vielleicht schon tot bist, ohne es selbst gemerkt zu haben.« Er gab wieder diesen unangenehmen – unanständigen – Laut von sich, griff in seine Jacke und zog ein silbernes Zigarettenetui hervor. Mogens fiel erst jetzt auf, dass er noch immer schwarze, eng
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