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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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ihr Blick zufällig durch die offene Speisekammer fiel. Auf dem Tisch stand der Nusskuchen, den sie am Morgen gebacken hatte — ein besonders schmackhafter Kuchen, mit einer rosa Zuckerglasur überzogen und verziert mit Mandeln. Anne hatte ihn eigentlich für Freitagabend gebacken, wenn sich die Jugendlichen von Avonlea auf Green Gables treffen würden, um den Dorfverschönerungs-Verein auf die Beine zu stellen. Aber was galten sie, verglichen mit dem schwer gekränkten Mr Harrison? Anne dachte, dass der Kuchen das Herz eines jeden Mannes erweichen würde, vor allem aber das eines Mannes, der selbst für sich kochen musste. Flink schob sie den Kuchen in eine Schachtel. Sie würde ihn als ein Friedensangebot mit zu Mr Harrison nehmen.
    »Das heißt, falls er mich überhaupt zu Wort kommen lässt«, dachte sie kläglich, als sie über den Heckenzaun kletterte und eine Abkürzung über die Felder nahm, die golden im Licht des traumhaften Augustabends dalagen. »Jetzt weiß ich, wie jemandem zumute ist, der zur Hinrichtung geführt wird.«

03 - Der Besuch bei Mr Harrison
    Mr Harrisons Haus war ein altmodisches, weiß gestrichenes Gebäude mit tief herabgezogenen Dachrinnen, dahinter lag ein dichtes Tannenwäldchen.
    Mr Harrison saß in Hemdsärmeln auf der mit Weinreben umrankten Veranda und rauchte genüsslich seine abendliche Pfeife. Als ihm klar wurde, wer da den Weg heraufkam, sprang er sofort auf, stürzte ins Haus und schloss die Tür zu. Zum einen war er überrascht, zugleich aber schämte er sich auch in Grund und Boden über seinen Ausbruch am Vortag. Anne jedoch raubte sein Verhalten fast das letzte Quentchen Mut.
    »Wenn er jetzt schon so wütend ist, wie erst dann, wenn er erfährt, was ich getan habe«, dachte sie kläglich, als sie anklopfte.
    Aber Mr Harrison öffnete verlegen grinsend die Tür und bat sie in einem sanften und freundlichen, ja fast nervösen Ton herein. Er hatte seine Pfeife beiseite gelegt und seine Jacke angezogen. Ausgesprochen höflich bot er Anne einen sehr staubigen Stuhl an. Der Empfang war soweit durchaus nett, wäre da nicht dieser schwatzhafte Papagei gewesen, der mit seinem bösen, giftigen Augen durch die Stäbe des Käfigs äugte. Kaum hatte Anne sich gesetzt, als Ginger zu krächzen begann: »Karotte, Karotte, Karotte . ..«
    Es war schwer zu sagen, wessen Gesicht röter war, Mr Harrisons oder Annes.
    »Beachten Sie den Papagei einfach nicht«, sagte Mr Harrison, als er seine Sprache wieder gefunden hatte, wobei er einen wütenden Blick auf Ginger machte. »Er... er schwatzt nur dummes Zeug. Ich habe ihn von meinem Bruder bekommen, der Seemann war. Seeleute bedienen sich nicht immer der gewähltesten Sprache und Papageien plappern nun mal alles nach.«
    »Das stimmt«, sagte Anne und verbarg, wie betroffen sie war. So wie die Dinge lagen, konnte sie es sich nicht leisten, Mr Harrison barsch anzufahren. Wenn man gerade die Kuh von jemandem ohne dessen Wissen oder Zustimmung verkauft hatte, dann durfte man sich nichts daraus machen, wenn dessen Papagei wenig schmeichelhafte Dinge daherplapperte. Trotzdem, die »Karotte« war nicht ganz so sanftmütig, wie sie es sonst vielleicht gewesen wäre.
    »Ich muss Ihnen etwas beichten, Mr Harrison«, sagte sie daher beherzt. »Es ... es dreht sich um . . . die Kuh.«
    »Du meine Güte«, rief Mr Harrison aufgebracht, »ist sie etwa schon wieder in meinem Hafer? Ach was, machen Sie sich nichts draus . . . und wenn es so ist. Es macht nichts ... macht gar nichts. Ich . . . ich war gestern viel zu unbesonnen. Machen Sie sich nichts draus.«
    »Wenn es nur das wäre«, seufzte Anne. »Aber es ist zehnmal schlimmer. Ich ...«
    »Du meine Güte, soll das heißen, sie ist in meinem Weizen?«
    »Nein, nein... nicht im Weizen. Aber...«
    »Also im Kohl! Sie ist in dem Kohl, den ich für die Ausstellung gezogen habe, he?«
    »Nein, Mr Harrison. Ich will Ihnen alles der Reihe nach erzählen. Darum bin ich hier — aber bitte unterbrechen Sie mich nicht. Das macht mich schrecklich nervös. Lassen Sie mich die ganze Sache erzählen und sagen Sie nichts, bis ich fertig bin - dann werden Sie nämlich eine Menge zu sagen haben«, schloss Anne, sagte das Letzte aber nicht laut.
    »Ich sage kein Wort mehr«, sagte Mr Harrison. Daran hielt er sich tatsächlich. Aber Ginger hielt sich an kein Schweigegebot und krächzte in Abständen immer wieder »Karotte«, was Anne ganz rasend machte, aber sie hatte sich nun wieder soweit gefangen, dass sie ihre
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