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Anklage

Anklage

Titel: Anklage
Autoren: Markus Schollmeyer
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beschwert, weil sie nicht auf abgenutzten Zellenmöbeln sitzen wollten? Mir kam nicht in den Sinn, dass es vielleicht einfach nur keine Stühle in der Zelle gab. Um keine unnötige Diskussion mit dem Wachmann zu führen, nahm ich den Stuhl mit.
    Hinter mir fiel die schwere Zellentür ins Schloss. Der Polizist verriegelte die Tür mehrfach. Von da an war ich mit meinem Mandanten allein.
    Ich blickte mich in der Zelle um. Sie war ungefähr zehn Quadratmeter groß, rechteckig und durchgehend weiß gefliest. Auch die Decke hatte Fliesen. An der rechten Wand neben
der Zellentür war ein Stehklo aus Aluminium, wie man es aus Urlauben im Süden kennt. In der anderen Ecke befand sich eine an der Wand befestigte Pritsche. Sonst war in dem Raum nichts - gut, dass ich einen Stuhl dabei hatte. Mein Mandant war wohl in eine Art Ausnüchterungszelle eingesperrt worden. Später sagte mir ein Polizist, dass sie das immer so machen bei frisch Festgenommenen, denen erhebliche Straftaten vorgeworfen werden. Schließlich weiß man nie, wie diese Menschen reagieren. Manche versuchen, sich das Leben zu nehmen, andere wiederum machen sich vor Angst über die Entdeckung und deren Folgen in die Hose. In beiden Fällen verursacht das eine Verunreinigung. Deshalb bringe man in dieser Dienststelle Täter, bei denen ein solcher »Verunreinigungsverdacht« besteht, lieber in eine Zelle, die man leichter reinigen kann als herkömmliche Zellen. Zur Not auch mal mit einem Dampfstrahler, der das Blut etwaiger Selbstmordversuche am besten beseitigen kann.
    Offenbar bestand nach Ansicht der Polizisten auch bei diesem Inhaftierten die Gefahr einer »Verunreinigung«, eventuell durch Selbstmord. Manche Blicke, die ich auf dem Polizeirevier bemerkte, ließen in mir die Vermutung aufkommen, dass dem einen oder anderen Beamten die Erfüllung dieser Erwartung keineswegs unrecht gewesen wäre.

    Und mein Mandant? Auf der Pritsche saß er, ein etwa 65-jähriger, fast winziger Mann. Ich habe ihn in diesem Augenblick auf etwa 1,60 Meter geschätzt. Später sollte ich in der Akte lesen, dass er 1,64 Meter maß. Er wog vielleicht 50 Kilo, großzügig geschätzt. An seinem schmächtigen Körper hing ein verdreckter Arbeitsoverall, wie er von Landwirten getragen wird. Seine Füße steckten in abgewetzten, schwarzen Gummistiefeln. Das Haar war wirr und sein Gesicht unrasiert. Die dürren Finger mit ungeschnittenen Nägeln, unter denen Dreck zu
sehen war, komplettierten seine ungepflegte Erscheinung. Erst jetzt fiel mir der beißende Geruch auf, der die Zelle erfüllte. Es roch nicht nur nach Gülle, es stank zum Himmel. Ich empfand Ekel, zumal mir das ihm vorgeworfene Delikt in den Sinn kam. Mein Bauchgefühl meldete sich in diesem Augenblick wieder und empfahl mir, einfach wieder ins Büro zu gehen und alles zu vergessen. Doch auch an dieser Stelle hörte ich nicht auf meinen Bauch, sondern gab weiter der Stimme nach, die mir einen gewaltigen Vorteil aus der Verteidigung des Kinderschänders in Aussicht stellte. Der zukünftige große Anwalt ein Schwächling? Niemals!

    Mein Mandant musterte mich mit kleinen, stechenden Augen, während ich mich vorstellte. Er wendete den Blick erst von mir ab, als ich ihn nochmals mit dem Tatvorwurf konfrontierte und viel zu höflich bat, mir seine Sicht der Dinge zu erläutern. Eine kleine Pause entstand. Er hob seinen zerzausten Kopf und sah mich zum ersten Mal direkt an. Mir wurde kalt auf meinem Klappstuhl, aber ich bewahrte Haltung. Wozu war ich denn in den USA auf eine Schauspielschule gegangen, wenn nicht dafür, in solchen Situationen meine Mimik und Gestik nicht entgleisen zu lassen.
    »Was ist denn nun passiert, aus Ihrer Sicht?«, hakte ich noch einmal nach.
    »Es waren nicht so viele, vielleicht zwei oder drei. Aber niemals einhundertsiebenundvierzig«, sagte er mit dünner Stimme. Eine Stimme, die so gar nicht zu einem Monster passte. Dann fuhr er monoton fort: »Und die Kinder haben es so gewollt.«
    Mir wurde wieder übel, es würgte mich regelrecht. Das schlug doch dem Fass den Boden aus. Wie konnte er nur so etwas behaupten! Dachte er von mir, ich würde akzeptieren, dass er so einen respektlosen Schwachsinn auch öffentlich erzählt, etwa noch dazu in einem Gerichtssaal?

    »Sind Sie eigentlich noch bei Trost? Solche Aussagen sind nicht nur Hohn und Spott für die Opfer, sie sind frech und dumm zugleich«, platzte es aus mir heraus.
    Mein Mandant zuckte mit keiner Wimper, starrte mich nur regungslos an. Ich dagegen
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