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Animal Tropical

Animal Tropical

Titel: Animal Tropical
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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Frühjahr, Pedro Juan? Alles ist bereit. Kommst du?«

2
    Sie rief mich immer um acht Uhr morgens Havanna-Zeit an, zwei Uhr nachmittags in Stockholm. Man konnte die Uhr danach stellen. Eines Morgens im März klingelte das Telefon. Ich war seit einer Stunde wach, lag aber noch im Bett. Mit drei Kissen unterm Kopf las ich Die Unsterblichkeit von Kundera. Agneta unterbrach mich genau auf Seite 69 in einem Absatz über Unterdrückung, Brutalität und Dünkel, die die Macht erzeugt: »Goethe! Napoleon schlug sich auf die Stirn. Der Autor von Die Leiden des jungen Werther. Beim Feldzug in Ägypten stellte er fest, dass seine Offiziere dieses Buch lasen. Da er es kannte, wurde er furchtbar wütend. Er rügte sie dafür, einen solch sentimentalen Unsinn zu lesen, und verbot ihnen ein für alle Mal, Romane in die Hand zu nehmen. Jegliche Art von Roman! Sie sollten historische Schriften studieren, das sei viel nützlicher!«
    Im Gegensatz zu Agneta las ich einen gemächlichen, philosophischen Roman. Ich las in den wenigen Momenten der Ruhe und Stille, die mir in einer besonders Schwindel erregenden und chaotischen Stadt zur Verfügung standen. Ein lärmender Ort, in dem nichts über längere Zeit unverändert bleibt.
    Auf ihre Fragen konnte ich nur mit einem nahe liegenden Satz antworten: »Wenn du an einem solchen Ort lebst, kannst du nicht langsam schreiben. Alles hier zerrinnt unter den Händen. Nichts ist von Bestand. Und du musst raus, um Nachschub zu besorgen. So geht’s Tag für Tag.« Sie schwieg. Das mögen wir. Die Menschen gestatten sich nur dann, eine Weile zu schweigen und die Stille zu zweit zu genießen, wenn sie zusammen sind, einer beim anderen. Ein internationales Ferngespräch hingegen muss bezahlt werden. Niemand verschwendet sein Geld dafür, sich im Schweigen zu üben. Wir taten es. Agneta ruft aus ihrem Büro an der Universität an, insofern ist dieses sinnliche Spiel gratis. Sie an einem Ende, ich am anderen. Wir sprechen kein Wort. Sind vereint durch das Schweigen. Schließlich unterbricht sie die Leere mit derselben Frage wie immer: »Kommst du im Frühjahr?«

3
    Wir reden wenig. Vielleicht fünf oder sechs Minuten. Als ich zu meinem Buch zurückkehre, denke ich über Tempo nach. Man schreibt, wie man lebt. Das ist unvermeidlich. Ein langsam verstreichendes, erholsames Tempo ist das Ideal, um einen europäischen Schriftsteller über sein Material zu erfassen. Er lebt in einer abgelagerten, ermatteten Kultur. Lebt am äußersten Rand von etwas. Vielleicht einer Zeitspanne, einer historischen Epoche. Es ist die Wahrnehmung von jemandem, der am Ende eines Weges angekommen ist und sich an den Wegrand setzt, um in aller Ruhe über seinen langen und gefährlichen Weg nachzudenken.
    Ich hingegen gehöre einer brodelnden Gesellschaft an, voller Krisen und Umwälzungen mit absolut ungewisser und unvorhersehbarer Zukunft. An einem Ort, an dem vor nur fünfhundert Jahren die Menschen nackt in Höhlen lebten, fischten und jagten und kaum das Feuer kannten. Ganz nebenbei gesagt, wohne ich in einem Negerviertel. Neger, die noch vor hundert Jahren Sklaven waren. Und sie haben wenig erreicht. Viel zu wenig für hundert Jahre ohne Fußeisen.
    Als Resultat davon ist mein Leben ein ewiges Experiment zwischen dem Nichts und dem Nichts. Manchmal wird das Experiment Schwindel erregend und brutal. Ich kann das, was ich tue und denke, nicht künstlich von dem trennen, was ich schreibe. Wohnte ich in Stockholm, würde mein Leben vielleicht gemächlich sein, monoton und grau. Die Umgebung ist entscheidend. Das Einzige, was ich immer tun kann, ob in Stockholm oder Havanna oder sonst wo, ist, mir meinen eigenen Raum zu schaffen. Ich kann nicht erwarten, dass mir jemand die Freiheit lässt. Die Freiheit muss sich jeder selbst schaffen. Wie? Das muss jeder eigens für sich entdecken. Ich schaffe mir meine Freiheit, indem ich schreibe, male und meine einfache Sicht der Welt aufrechterhalte, wie ein Tier im Dschungel lauere, mich jedem Eindringen in mein Privatleben entgegenstelle. Das Wesentliche für den Menschen ist die Freiheit. Die innere ebenso wie die äußere. Den Mut zu haben, unter allen Umständen und überall man selbst zu sein. Freiheit ist wie Glück: Nie kommt man ganz heran. Nie kriegt man sie ganz. Es gibt nur den Weg. Immer hinkt man der Freiheit und dem Glücklichsein einen Schritt hinterher. Und damit lebt man. Es ist das Einzige, wonach wir trachten können. Noch vor wenigen Jahren und über lange Zeit war
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