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Anemonen im Wind - Roman

Anemonen im Wind - Roman

Titel: Anemonen im Wind - Roman
Autoren: Tamara McKinley
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sagte er. »Solltest ihn mir überlassen. Ich würd’s ihm bald zeigen.«
    Joe streichelte die lange, kastanienbraune Nase und fuhr mit der Fingerspitze um die weiße Blesse auf der stolzen Stirn. »Manieren kann man einem Pferd nicht einprügeln«, sagte er gedehnt. »Er schnappt, weil er Angst hat. Er wird’s noch lernen, wenn er so weit ist. Ich will ihm das Feuer nicht vollständig austreiben.«
    Charlie schnaubte und trank in tiefen Zügen aus seinem Wasserschlauch. »Ich wette einen Dollar, dass ich ihn in einem Tag auf Vordermann bringe. Wie wär’s?« Seine blauen Augen glitzerten, und sein breites Grinsen wirkte gezwungen.
    Joe sah, dass es Charlie danach drängte zu beweisen, dass er der bessere Mann war, stärker und abenteuerlustiger als sein Bruder, und dass er das Erstgeburtsrecht besaß, nur weil er eine Stunde älter und einen Zoll größer war. Es war eine vertraute Szene, die immer wieder aufgeführt wurde, so lange Joe zurückdenken konnte. Nur, dass der Einsatz diesmal zu hoch war und er nicht nachgeben würde. Er schüttelte den Kopf. »Satan gehört mir, und das bleibt auch so. Um ihn wird nicht gewettet.«
    Charlie band die Zügel von dem Steinpfeiler los und führteseine Pferde zum Höhleneingang. Werden wir ja sehen!, sagte er bei sich.
    Ellie öffnete die Augen. Sie war fast begraben unter dem Mantel ihres Vaters, und sein Gewicht lastete auf ihr und machte das Atmen schwer. »Dad?« Sie stemmte sich gegen ihn und versuchte, unter ihm hervorzukriechen, aber es gelang ihr nicht. Sie rang nach Luft, und Panik stieg in ihr auf, weil ihr Vater nicht reagierte. »Dad!«, sagte sie entschlossener und stieß ihn hart in den Bauch. »Geh runter! Du zerquetschst mich noch.«
    John lag reglos und schwer auf ihr; seine Mantelschöße flatterten in dem nachlassenden Wind, der über die Ebene fegte. Ellie wand sich und versuchte ihn wegzuschieben. Als ihr klar wurde, dass sie ihn nicht atmen hörte, begann ihr Herz heftig zu schlagen. »Dad?«, schrie sie. »Dad, wach auf!« Das Entsetzen verlieh ihr die Kraft, sich noch härter gegen ihn zu stemmen.
    John rollte zur Seite und lag ruhig im Staub. Sein aschgraues Gesicht war von getrocknetem, staubverkrustetem Blut verschmiert. Sein Mund war zu einem lautlosen Schrei geöffnet, und seine Augen starrten leer und von Staub verklebt in den Himmel.
    »Dad?«, flüsterte sie und drückte die zitternden Finger an den Mund. Sie sah nicht, dass ihre Tränen dunkle Flecken in der Staubschicht auf ihren Händen hinterließen, als sie niederkniete und sein kaltes Gesicht berührte. Sein Kopf rollte zur Seite, und sie fuhr zusammen, als sie das klaffende Loch an seiner Schläfe sah. »Nein!«, schrie sie. »Du kannst mich hier nicht allein lassen. Das erlaube ich nicht. Wach auf! Wach auf!« Sie schüttelte ihn, stieß ihn, schlug ihm ins Gesicht und weinte, weil sie wusste, dass es nicht helfen würde.
    John lag da, reglos und still wie die Umgebung. Eine Hand lag an seiner Seite, zum Himmel hin geöffnet, die Finger gekrümmt, als winke er Ellie zu sich. Sie warf sich über seine Brust,und die Tränen zogen winzige Pfade durch den Staub auf seinen Kleidern. »Du darfst nicht sterben«, schluchzte sie. »Ich lass dich nicht.« Sie legte die Wange auf seine Brust und schlug in einem letzten Versuch, ihn ins Leben zurückzuholen, mit beiden Fäusten auf ihn ein.
    Aber er zeigte keine Regung; die hagere Brust hob und senkte sich nicht, und kein Atemzug kam aus seinem offenen Mund. Aller Kräfte beraubt, sackte sie auf ihm zusammen und überließ sich der Verzweiflung. Er war alles, was sie hatte. Und jetzt war er fort.
    Die Sonne stand fast im Zenit, als Ellie schließlich den Kopf hob und der Wirklichkeit ins Auge blickte. Sie schaute ihren Vater an, dem der Tod den Ausdruck und die Gesichtsfarbe geraubt hatte. Er war ihr fern wie ein Fremder. Sie küsste sanft seine Wange. »Ich liebe dich«, flüsterte sie. »Ich weiß, du wolltest mich nicht verlassen.« Sie rieb sich die Tränen aus den Augen. »Aber ich habe Angst, Dad. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
    Sie kniete neben ihm und schaute hinaus in die endlose Leere. Der Sturm hatte den Weg, dem sie gefolgt waren, spurlos beseitigt, und die wenigen Bäume, die das Unheil überlebt hatten, waren kahl. Die Pferde waren verschwunden. Kein Laut war zu hören, und nirgends sah man die willkommene Staubwolke, die einen anderen Reisenden ankündigte. Sogar die Vögel schienen sie verlassen zu haben.
    Ellie fror
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