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Anemonen im Wind - Roman

Anemonen im Wind - Roman

Titel: Anemonen im Wind - Roman
Autoren: Tamara McKinley
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erschütterte die Erde. Innerhalb weniger Augenblicke war es unmöglich, zu sprechen oder etwas zu sehen, denn wieder änderte der Sturm die Richtung und wirbelte Staub und Dunkelheit in ihren Unterschlupf, als sei er entschlossen, die Brüder aufzustöbern. Die beiden saßen da, das Kinn auf die Knie gestützt, die Arme fest um den Kopf geschlungen, die Nase vergraben, die Augen fest geschlossen, als sich die falsche Nacht herabsenkte. Das Schreien des Windes und der Pferde verwehte wie ein Echo, und der Staubsturm rannte gegen den Höhleneingang an, prallte von den Wänden ab und strömte mit einem dumpfen Stöhnen durch die Tunnelgänge im Innern des Berges, die er wie von Stoßwellen erzittern ließ.
    Die Jungen kauerten sich Wärme suchend aneinander. Beide empfanden die gleiche Mischung aus Furcht und Erregung. Die schreckliche Faszination des Sturms ließ Joe erschaudern. Er war nicht gerade stolz auf seine Angst, aber er wusste, sie entsprang dem Bewusstsein, dass das Leben kostbar war und er dies gern überstehen wollte, um die Zukunft zu erleben, die sie geplant hatten. Zugleich wusste er, dass Charlie das Schicksal herausfordern und der Gefahr trotzig entgegentreten würde, wenn er Gelegenheit dazu bekäme. Sie mochten Zwillinge sein, aber sie waren sehr verschieden, und manchmal fürchtete Joe die beinahe gleichgültige Einstellung seines Bruders zum Leben weit mehr als jeden Sturm. Charlie würde immer am Rande des Abgrunds leben – dem Augenblick hingegeben, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern.
    Vielleicht hat Charlie ja Recht, dachte Joe. Vielleicht verstehe ich wirklich keinen Spaß mehr. Aber wir sind keine Kinder mehr. Wir sind siebzehn, werden bald achtzehn. Mit dem Alter kommt doch sicher auch die Reife – der Augenblick, da wir für unsere Handlungen die Verantwortung tragen müssen? Joe vergrub das Gesicht in den Armen, und seine Gedanken wanderten zu demAnwesen, das ihm eines Tages gehören würde, zu den Rindern und Pferden, die er über grüne Weiden treiben würde; zu der Farm, auf die er jeden Abend zurückkehren würde. Es brauchte nichts Großartiges zu sein, diese Farm, von der er träumte – nur ein Ort, den er Zuhause nennen könnte.
    Charlie fröstelte im kalten Wind, der zur Höhle hereinfuhr. Das war das Leben. Das war Lebendigkeit. Das war die Aufregung, nach der er sich in den öden, endlosen Tagen seiner Jugend gesehnt hatte, als es nichts als Armut und harte Arbeit gegeben hatte. Er grinste und bereute es augenblicklich, als Staub ihm in den Mund drang und zwischen den Zähnen knirschte. Er spuckte aus, vergrub den Kopf tiefer in den Armen und malte sich die Zukunft aus. Eine Zukunft, in der er mit wilden Pferden über die Ebenen zog. In der er gewaltige Reisen unternahm, zu neuen Abenteuern, neuen Menschen, neuen Orten. Dieses Land war für Männer wie ihn geschaffen. Männer, die keinen Ort ihr Zuhause nannten, die neue Wege bahnten, auf denen andere ihnen folgen konnten. Männer aus dem Holz, aus dem man Legenden schnitzte.
    Die Ungeduld saß Charlie im Nacken, als der Wind an seinen Kleidern zerrte, und er sehnte sich danach, die wilde Freiheit dieses Windes zu spüren und sich seinem wahnwitzigen Rasen anzuschließen. Aber er wusste, dass dies noch nicht der richtige Augenblick war. Er hatte noch eine Menge im Leben zu erledigen, und einstweilen würde er sich damit begnügen müssen, den gemesseneren Schritten seines Bruders zu folgen.
    Die Brüder hatten keine Ahnung, wie lange sie so im Dunkeln an der kalten Felswand kauerten, aber irgendwann ließ das Heulen des Windes nach, und der Sandsturm verebbte. Sie hoben die Köpfe und lauschten. Der Sturm wanderte nordwärts; immer noch heftig, immer noch heulend und klagend, zog er einen Pfad der Zerstörung über das Flachland, aber für sie wardie Gefahr vorüber. Sie krochen aus ihrem Versteck, spuckten Staub aus und rieben ihn aus den Augen. Sie waren glücklich davongekommen.
    Die Pferde bäumten sich auf, als sie ihnen die Decken von den Köpfen nahmen und sie untersuchten. Eine braune Stute hatte einen Schnitt am Bein; offenbar hatte sie gegen die Felssäule ausgeschlagen. Aber er war nicht allzu tief, und Joe wusste, dass er bald verheilt sein würde. Satan rollte mit den Augen, und das Weiße schimmerte im Dunkeln. Er zog die Oberlippe hoch und schnappte nach Joes Hand, als der das Zaumzeug zurechtzog.
    Charlie lachte. Noch immer strömte Adrenalin in seinen Adern. »Du wirst diesen Bastard niemals zähmen«,
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