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Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes

Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes

Titel: Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
Autoren: Alexandra Marinina
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nehmen würden!
    In den vergangenen Monaten hatte Ljuba mehrmals bei ihren Eltern angerufen und ihnen mit fröhlicher Stimme versichert, dass es ihr gut ging, prächtig sogar, dass sie eine tolle Arbeit hatte und alles in bester Ordnung war. Sie konnte ihren Eltern einfach nicht gestehen, dass sie in die Hölle geraten war. Zumal ihre vorsichtige Mutter beharrlich versuchte hatte, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, während ihr Vater, der in allem direkter und schärfer war, ganz unverblümt seine Meinung geäußert hatte. »Umsonst ist der Speck nur in der Mausefalle«, hatte er gesagt. »Was sind denn das für seltsame Wohltäter? Bist du dir sicher, dass man ihnen trauen kann?« Ljuba war sich sicher gewesen. Und danach hatte sie es nicht fertig gebracht, ihren Eltern die Wahrheit zu sagen. Hätten ihre Eltern erfahren, was sie in der Türkei wirklich erlebt hatte, wären sie außer sich gewesen. Ljuba musste mit einem Koffer voller Geschenke und Einkäufe und mit wenigstens etwas Geld in der Tasche nach Hause kommen. Aber sie besaß überhaupt nichts. Im Koffer war nicht mehr als das, was sie vor einem halben Jahr mitgenommen hatte, und an Geschenken hatte sie nur zwei winzige silberne Talismane mitgebracht, die man ihr auf einem Bazar einfach nur für ihre schönen Augen geschenkt hatte und die keinen Pfifferling wert waren. Damals waren Mila und sie gerade erst angekommen, sie waren aufgeregt durch die Straßen gelaufen und hatten mit leuchtenden Augen die bunten Auslagen betrachtet. Man hatte die beiden für Touristinnen gehalten und ihnen Werbegeschenke gemacht in der Hoffnung, dass sie zurückkommen und Geschenke für ihre Freunde und Verwandten kaufen würden. Aber sie waren nicht zurückgekommen.
    Ljuba ging hinaus in die Ankunftshalle und begann, ziellos umherzugehen, während sie auf Larissa wartete und ständig zur Uhr sah. In kurzen Abständen wurde per Lautsprecher angekündigt, welche Maschine gerade gelandet war, und die Wartenden stürzten zu den Zollabfertigungsschaltern. Ihnen kamen lächelnde Fluggäste entgegen. Alle wurden abgeholt. Nur sie nicht, Ljuba Sergijenko. Wieder begannen Tränen über ihre Wangen zu laufen, und sie schlich zu den Toiletten, um sich das Gesicht zu waschen. Während sie sich über das Waschbecken beugte und die zu einer Schale geformten Hände mit Wasser voll laufen ließ, hielt sie es plötzlich nicht mehr aus und brach in lautes, hemmungsloses Schluchzen aus. Zum ersten Mal im Lauf dieses halben Jahres konnte sie sich nicht mehr beherrschen. In einer einzigen Sekunde hatte sie sich plötzlich an alles erinnert: an die Demütigung, den Hunger, das schäbige Lager in dem stickigen Zimmer ohne Klimaanlage, an ihr ganzes Elend, ihre Verzweiflung und ihre Scham. Sie erinnerte sich, wie sie auf dem Flughafen von Antalya gesessen hatte. Der Abflug der Maschine nach Moskau war zweimal verschoben worden, zuerst um sechs Stunden, dann noch einmal um dreizehn. Sie hatte nicht gewusst, wohin mit sich, die Passagiere der Maschine hatten bereits die Passkontrolle durchlaufen und durften den Flughafen nicht mehr verlassen. Alle Plätze in den Bars und Bistros waren besetzt, die Leute saßen auf dem Fußboden, nirgends war mehr Platz. Und sie hatte schrecklichen Hunger gehabt. Aber alles das war Ljuba in diesem Moment unwichtig erschienen, weil in Moskau Strelnikow auf sie wartete. Der Albtraum war vorbei, sie flog endlich wieder nach Hause. Diese letzte kleine Unannehmlichkeit war leicht auszuhalten. Während sie auf dem Boden saß, schloss sie die Augen und sah Wolodjas Gesicht vor sich, sein Lächeln, seine geöffneten Arme, die sich ihre entgegenstreckten. Er wartete auf sie, er sehnte sich nach ihr . . .
    Aber nun wusste sie, dass niemand auf sie wartete.
    * * *
    Larissa Tomtschak steuerte das Auto sicher und geschickt durch die Straßen. Während der ganzen Fahrt schwieg sie, aber Ljuba war das recht, auch sie hatte keine Lust, sich zu unterhalten. Sie wollte nur eins: einschlafen und beim Aufwachen feststellen, dass sie das letzte halbe Jahr nur geträumt hatte.
    Zu Hause angekommen, schickte Larissa Ljuba als Erstes unter die Dusche, dann ging sie in die Küche, um etwas zu essen zu machen.
    »Wo ist Slawa?«, fragte Ljuba. »Doch nicht etwa zur Arbeit? Heute ist doch Sonntag. Hat Strelnikow ihn wieder einmal eingespannt?«
    Larissa warf ihr einen seltsamen Blick zu.
    »Geh dich duschen. Danach unterhalten wir uns.«
    Bei Tisch brachte Ljuba, so ausgehungert sie auch war,
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