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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR
Autoren: Serhij Zhadan
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in seinen Memoiren ist auf diesem Bahnhof entweder jemand gefangengenommen worden oder geflohen, man steigt nicht immer durch, besonders in seiner Biographie, du liest den ganzen Band und kapierst nicht mal, auf welcher Seite der Hauptheld gekämpft hat; Sosjura schreibt nur so allgemeines Zeug, muß man sich mal vorstellen, der Typ hat den ganzen Bürgerkrieg mitgemacht, an verschiedenen Fronten gekämpft, ist heil rausgekommen, was ja die Hauptsache ist, und worüber schreibt er dann in seinen Memoiren? andauernd irgendein Fick mit einer Barmherzigen Schwester oder einem zuständigen Agitator (na gut, mit einer Agitatorin, so was wollen wir Sosjura mal nicht unterstellen), das ewige Gejammer, daß drüben, im sonnigen Donbass, seine schöne Jungfrau Lili Marleen auf ihn warte, keine klare politische Richtung und kein geistiges Programm (daß er für die Weltrevolution eintrat, ist keine Entschuldigung, dafür sein kann jeder), mit einem Wort – ein Schwätzer, keine richtigen Kriegsszenen mit Blut und Gedärm, das an den Reifen der roten Panzerwagen klebt, kein facettenreiches Bild von Soldaten und Sergeanten mit Dienstlisten und vernarbten Gewehrkolben, keine Angaben über die zahlenmäßige Stärke des Gegners, schlimmer noch, kein einziger eigenhändig getöteter Feind der Arbeiterklasse! Und da schreibt er, er sei für die Weltrevolution! Lies mal, möchte man dem Autor sagen, die Memoiren anderer Revolutionäre in Südrußland, also in der Ukraine, lies wenigstens Nestor Machno, das ist ein ganz anderer Umgang mit Details und Nuancen, der beschreibt jeden eigenhändig aufgeknüpften Marodeur oder Kommissar mit einer solchen Genauigkeit, als wollte er diese Listen dem heiligen Petrus persönlich überreichen, in der Hoffnung, der Gute möge ihm das anrechnen, wenn er eines Tages selbst an die Paradiespforte klopft. Was aber könnte der heilige Petrus Wolodymyr Mykolajowytsch Sosjura anrechnen? Das Tamtam mit den Barmherzigen Schwestern in den Sanitätszügen? Wohl kaum. Oder ich habe den Sinn des Christentums falsch verstanden. Was hat der heilige Petrus mit den Barmherzigen Schwestern zu schaffen? Der hat auch so genug um die Ohren, nehme ich an. Aber lassen wir mal Pforte und Passierschein da oben beiseite, da ist immerzu was Unausgesprochenes, was ich nicht mag, denn hinter diesen ganzen Sanitätszügen steckt doch etwas viel Interessanteres, etwas, was Wolodymyr Mykolajowytsch entweder tatsächlich vergessen oder aber verdrängt hat. In Wirklichkeit stinken seine Memoiren nach Leichen, stinken nach warmem Blut und Schmutzwäsche, nach Typhus und Ruhr, nur – warum schreibt er nicht darüber? Das Traurige an dieser Literatur ist meiner Meinung nach, daß die Biographien ihrer besten Autoren um vieles interessanter sind als die Werke, aber das gehört nicht hierher.
    Wir steigen aus. Der Zug wird von riesigen Lampen angestrahlt, die aussehen wie Scheinwerfer im Stadion, die Wagen setzen sich schwerfällig in Bewegung und beschleunigen bis zum nächsten Haltepunkt, dann nimmt der Zug Kurs auf den Donbass. Hier ist nicht einmal tagsüber was los. Nachts schon gar nicht. Auf dem Bahnhof ist es kalt, trotz Sommer, trotz August, hier ist es kalt, und da liegt schon einer und schläft, los, sage ich, laß uns zum Busbahnhof gehen, dort führt die Schnellstraße vorbei, vielleicht nimmt uns jemand mit, wenn nicht, warten wir auf den ersten Bus, komm schon, ist nicht weit. Das habe ich einfach so gesagt, ist nicht weit, ich bin diese nachtschwarzen Straßen schon öfter gegangen und weiß, daß das nächtliche Herumtappen auf den unbefestigten Straßen der Stadt ohne jede Orientierung ein aussichtsloses Unterfangen ist, aber was soll's. Wir gingen den Bahnsteig entlang und sprangen auf den Weg, der neben den grasüberwachsenen Gleisen verlief, wir wichen Methanolfässern und einem Betonzaun aus und entfernten uns von den Lampen und dem Bahnhof, neben uns kroch der »Sumy-Luhansk« und hüllte uns in betäubenden Rauch von Abteilkohle und brodelndem Samowarwasser, der Zug war der letzte Lichtpunkt. Dann mußten wir im Dunkeln weiter.
    Der Busbahnhof war zu. Als ich zuletzt hier war, vor ein paar Jahren, lag er schon in den letzten Zügen, zwei Drittel der Fahrtziele waren bereits gestrichen, das Dorf von der Zivilisation abgeschnitten, wenn man das alles überhaupt Zivilisation nennen konnte; die Sessel und Bänke halb kaputt, die Sitze zerschlissen, der Lautsprecher schwieg vielsagend. Aber damals gab es wenigstens
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