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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR
Autoren: Serhij Zhadan
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200 Kilometer von Charkiw in die kleine Stadt zurückzulegen, die dafür bekannt ist, daß dort seinerzeit Wolodymyr Mykolajowytsch Sosjura, später ein gefeierter Dichter, nicht festgenommen und in kleine, unansehnliche Stücke zerteilt wurde, wodurch der sowjetukrainischen Literatur bedeutende Werke erhalten geblieben sind, zum Beispiel Sosjuras unsägliche Memoiren. Es gibt also mehrere Möglichkeiten. Man könnte den Bus nehmen, das ist am einfachsten und bequemsten, kommt also für uns nicht in Frage. Weiter. Man könnte den Bummelzug nehmen und mehrmals umsteigen, zum Beispiel nachts auf dem merkwürdigen Bahnhof Hrakowe, wo sich stundenlang keine Menschenseele zeigt, nur irgendwo links riesige Silos in den Himmel ragen, eine graue Multifunktionsanlage, öde Erinnerung an die abgefuckte sowjetukrainische Landwirtschaft, dir bleibt nichts anderes übrig, als mitten in der Nacht auf die Stahlbrücke zu treten, die Gott weiß warum über den Bahnsteigen entlangführt, in den Himmel zu schauen und zu warten, daß die Sonne oder sonst irgendwas auftaucht, und wenn die Sonne dann – so gegen fünf – wirklich auftaucht, siehst du plötzlich, wie sie ihre Strahlen bewegt, ganz vorsichtig, wie eine Flunder, die über eine ferne, von Kadavern und gebrauchten Kondomen gesäumte Schnellstraße rollt, du schaust lange, sehr lange, so lange, bis ein Bummelzug kommt, drei Stunden vielleicht. Doch zur Schnellstraße. Man könnte auch trampen. Im Sommer ist das ganz praktisch, im Winter gefährlich. Aber auch im Sommer macht es keinen großen Spaß, es fahren kaum Autos, zu Sowjetzeiten, ja, da war hier richtig was los, an den Tankstellen wurde Limonade verkauft, heute ist die Infrastruktur im Arsch, und obwohl man in den Kiosken am Straßenrand alles kaufen kann bis hin zu Waffen und Drogen, ist das Leben abseits der Siedlungen traurig und kümmerlich, das Show Business stirbt aus, die Autofahrer sind nervös, die Bewohner der abgelegenen Dörfer sehen dich an wie einen Downie, hier hält nicht mal eine Nutte, um dich mitzunehmen, bloß weg von den endlosen Sonnenblumenfeldern, den Wartehäuschen am Straßenrand mit Blut- und Spermaspuren an den Wänden, zu den Menschen mit ihren Leben und Lebensmittelläden, aber um die geht es gar nicht, wirklich nicht. Ich kenne diese Schnellstraße gut, unzählige abgespeicherte Erinnerungen an Petting in überhitzten Ikarus-Kabinen, an zerschmetterte Schädel und Blut auf dem Asphalt, direkt an der Geschwindigkeitsbeschränkung, an blondes Frauenhaar auf deinen Schultern, das du sorgfältig abzupfst, als ihr fast schon am Ziel seid und sie gerade eingeschlafen ist; die Pausen unterwegs sind immer hilfreich und willkommen, und wenn du von Charkiw nach Luhansk trampst, sind die Pausen überhaupt das Wichtigste, das Eigentliche, sie sind so lang und wiederkehrend, daß sie alles ausfüllen – dich, deine Hoffnung und deine Hoffnungslosigkeit. Einmal, es war ein heißer Sommer, trampte ich auf dieser Straße, wurde nachts an der merkwürdigen Raststätte Hrakowe abgesetzt und stellte mich am Morgen an die leere Fahrbahn mit Hundekadavern und den Spuren fremder Liebe; ich hatte Glück, irgendein Biker hielt, nahm mich gut hundert Kilometer mit und setzte mich an der Wuslowa-Trasse ab. Und da fing es an. Ich wartete eine Stunde und ging dann los, in meine Richtung. Die Luft war warm und staubig und roch nach Wolfsmilch, so daß ich einfach loslaufen mußte, in so einer Luft kannst du nicht einfach stehenbleiben und warten, bis jemand kommt, der in deine Richtung will und dich mitnimmt, du mußt einfach los, läufst über alle Kieselsteine dieser Welt, kommst an allen Sonnenblumen dieses Erntejahres vorbei, die sich von dir abwenden, der Sonne zu. Ich muß mich loben, ich bin immerhin fünfzehn Kilometer gelaufen, dann fiel ich ins Gras und schlief bis zum Abend. Ich kam gerade noch so an, wo ich hinwollte, aber, wie soll ich sagen, also, es gibt vieles in meinem Leben, woran ich mich überhaupt nicht mehr erinnere, und anderes, woran ich mich nicht erinnern will, aber die Kieselsteine und die versifften Wartehäuschen, in die ich vor der Sonne flüchtete, die Provinzschönheit, die in einem Häuschen auf den Bus aus der Gegenrichtung wartete und mich ansah – daran werde ich mich immer erinnern. An der Schnellstraße gibt es ein paar Stellen, wo mir gleich einer steht, wenn ich nur dran denke. Kurz hinter Swatowe zum Beispiel ist so eine, an einer Kreuzung, wo mich an einem Septembertag
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