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Amputiert

Amputiert

Titel: Amputiert
Autoren: Gord Rollo
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den Augen küsste ich das Päckchen zum Abschied und betete zu Gott, der Umschlag möge wohlbehalten bei Arlene ankommen. Wenn mein Tod ihr den Schlüssel zu einem glücklichen Leben geben würde, wäre er es wert. Ich hoffte, dass sie alt genug war, das zu verstehen.
    Auf dem Weg zurück zur Bahnstrecke hielt ich inne, um zu verschnaufen, und ließ den Blick über die rostigen Schienen der Brücke zu einer etwa drei Meilen entfernten Stelle am Horizont wandern. Dort verliefen über einen grasbewachsenen Hügel am Stadtrand weitere Schienen. Zweimal täglich, sechsmal die Woche rollte ein Güterzug aus Erie, Pennsylvania, jenen Hügel herab, wand sich durch die Eingeweide der Stadt und donnerte anschließend auf dem Weg nach Rochester, New York, über die Brücke an der Carver Street. Zwölf Stunden später raste derselbe Zug – oder wahrscheinlich eher einer, der genauso aussah – in entgegengesetzter Richtung auf dem Rückweg nach Erie erneut über die Brücke. Obwohl der Zug unzählige Male über meinen erbärmlichen Abklatsch von einem Zuhause hinweggedonnert war, hatte ich immer noch keine Ahnung, welche Fracht er beförderte.
    Ich würde es wohl nie erfahren.
    Fast so, als hätten meine Gedanken ihn herbeibeschworen, geriet der Zug langsam in Sicht und verringerte kurzzeitig die Geschwindigkeit, als er den Weg hinab in die Stadt antrat. Ich beobachtete ihn, bis er hinter den hohen Gebäuden verschwand, dann ging ich hinaus auf die Brücke. Sofern der Güterzug keine ungewöhnliche Verspätung hatte, blieben mir noch etwa acht Minuten zu leben.

Kapitel 3
    Der September in Buffalo war eine großartige Zeit des Jahres. Wunderschön. Die Bäume präsentierten sich in unzähligen verschiedenen Farben, die Temperaturen sanken endlich zurück in den Bereich zwischen fünfzehn und zwanzig Grad, und die abgestandene Luft der Stadt fühlte sich nach einem langen Sommer voll Schweiß und Smog wieder sauber an. Der Herbst war mit Abstand meine Lieblingsjahreszeit, doch leider genügten saubere Luft und hübsche Blätter nicht, um meinen Plan für diesen Tag hinauszuzögern.
    Es gab viele Gründe, weshalb ich mich umbringen wollte, aber abgesehen von der Versicherungspolice war keiner besonders wichtig. Ich hatte dieselbe traurige, rührselige Geschichte, wie sie die meisten Obdachlosen erzählen. Früher hatte ich einen guten Job, eine nette Familie, ein hübsches Häuschen mit weißem Lattenzaun, bla, bla, bla. Alles belanglos. Ich hatte alles verloren; das allein zählte. Einen Teil kennen Sie bereits, den Rest können Sie sich vermutlich denken. Meine Frau Jackie und mein Sohn Daniel wurden während eines schweren Gewitters bei einem Autounfall getötet. Es waren keine anderen Fahrzeuge daran beteiligt. Jackie fuhr den Wagen, dennoch war zu einhundert Prozent ich daran schuld. Ein paar Kumpel hatten mich dazu überredet, ausgerechnet zum Bowlen mitzukommen. Wir spielten ein paar Runden, setzten uns an die Bar, und bald war ich hoffnungslos betrunken, weshalb ich Jackie anrief, um mich abholen zu lassen. »Sind ja nur ein paar Regentropfen, Schatz, was kann schon passieren?«
    Berühmte letzte Worte.
    Jedenfalls verlor ich an dem Tag alles, was mir wichtig war – meine Frau und meinen Sohn an den Tod, meine Tochter an blanken Hass. Etwa sieben Monate später folgten mein Job und mein Haus, danach wandte ich mich ganztags der Whiskeyflasche zu und endete letztlich auf dieser Brücke, bereit zu sagen: ›Scheiß drauf, ich bin raus.‹ Ich musste niemandem etwas erklären, brauchte keine Begründung dafür, sterben zu wollen. Ich tat es für Arlene, aber um die Wahrheit zu sagen, mir hing auch der Rest des Lebens zum Hals raus. Kurz gesagt: Ich hatte genug.
    In meinen selbstmitleidigen Gedanken versunken, hörte ich nicht, wie der Wagen hinter mir heranrollte, aber als ich zur Mitte der Brücke gelangte und mich umdrehte, stand er da. Es war eine jener großen Stretchlimousinen – metallic-weiß mit goldenen Zierleisten und dazu passenden goldenen Drahtspeichenfelgen. Herrgott, das Ding schien gut und gern zwölf Meter lang zu sein. In diesem Viertel fiel ein solches Auto ebenso sehr auf, wie es ein tanzender Elefant getan hätte. Der Anblick verschlug mir kurzzeitig die Sprache, allerdings nicht, weil der schicke Wagen so fehl am Platz aussah. Was mich am meisten überraschte, war, wie vertraut er wirkte. Ich konnte mich nicht an das Wo oder Wann erinnern, aber ich war sicher, die Limousine schon einmal gesehen zu
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