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Amputiert

Amputiert

Titel: Amputiert
Autoren: Gord Rollo
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ich würde es verstehen, wenn ich je in Kanada gelebt hätte, wo Eishockey so etwas wie eine Religion darstellte. Klar doch. Er hatte drei Wochen im heißen August auf einer Tabakfarm in Kanada verbracht und betrachtete sich nun als Fachmann für den Lieblingswintersport der Kanadier. Was für ein Scheißhaufen. Puckman war für nichts ein Fachmann; er war bloß ein Irrer und definitiv niemand, den zurückzulassen ich bedauerte.
    »Adios, Arschloch, wir sehen uns in der Hölle«, rief ich zu ihm hinüber, dann ging ich davon.
    Er knurrte mich noch einmal an und lächelte triumphierend, als hätte er einen Machokampf harter Kerle gewonnen, weil ich nicht um ein Stück von seinem leckeren Mittagessen gebeten hatte. Er hätte wohl nicht gelächelt, hätte er gewusst, dass ich einen seiner geliebten Pucks in der Tasche meiner ausgefransten Jacke hatte. Wenn der Güterzug kreischend auf mich zuraste, drauf und dran, meinen Körper in hundert Fetzen zu zerreißen, hoffte ich, dass Gott mir einen letzten Wunsch gewähren würde. Ich wollte von der Brücke hinabschauen, dieses dämliche Stück Hartgummi auf Puckmans großen Schädel schleudern und ihm ein Ding mitten in die Fresse verpassen. Dann könnte ich als glücklicher Mann sterben. Wahrscheinlich würde es nicht so laufen, aber hoffen konnte ich ja, oder?
    Ohne einen weiteren Blick zu ihm begann ich, die steile, schlammige Böschung zu erklimmen, die hinauf zur Carver Street führte. Von dort konnte ich geradewegs auf die Brücke marschieren und auf meine Fahrkarte aus diesem beschissenen Leben warten. Auf dem Weg nach oben rutschte und stolperte ich mehrmals, trotzdem stand ich innerhalb einer Minute auf der ersten Eisenbahnschwelle am Fuß der Brücke.
    Die Eisenbahnbrücke an der Carver Street stellte ein wunderbares Beispiel menschlicher Dummheit dar. So weit ich wusste, wurden Brücken in der Regel gebaut, um sich über irgendetwas zu spannen, beispielsweise Flüsse, Schluchten oder andere Straßen und Bahnstrecken. Nicht so diese Brücke; sie erstreckte sich etwa fünfundzwanzig Meter lang über – nichts. Na ja, Blue J und Puckman befanden sich dort unten, aber ich bezweifelte schwer, dass die Stadtplaner sie im Sinn gehabt hatten, als sie die Brücke entwarfen. Vielleicht hatte man darunter irgendwann eine Straße vorgesehen gehabt, die aus irgendeinem Grund nie gebaut worden war. Ich hatte keine Ahnung. Spielte auch keine Rolle.
    Ich trat auf die Brücke; erst da fiel mir der braune Umschlag unter meinem Arm ein. Idiot . Wie konnte ich etwas so Wichtiges vergessen? Es war unerlässlich, dass ich den Umschlag zur Post brachte, bevor ich das hier durchzog. Zum Glück würde das nicht lange dauern. Nur einen halben Häuserblock südlich der Carver Street gab es in der Dupont Street einen Briefkasten.
    Das Päckchen war an Gloria Churchill adressiert, die von mir erwähnte Schwägerin. Darin befanden sich die letzten drei Dinge, die ich meiner Tochter je geben würde: ein Umschlag mit Bargeld – nur hundertdreißig Dollar von meinem letzten Sozialversicherungsscheck –, ein Brief und eine Versicherungspolice, die ich für mich abgeschlossen hatte. Das Bargeld war nutzlos, aber mehr hatte ich nicht. Der Brief war kurz und gefühlsduslig; ich teilte Arlene darin Dinge mit, die sonst niemand wissen muss oder soll, doch das wirklich Wichtige war die Versicherungspolice. Seit mittlerweile über einem Jahr zahlte ich die Prämien über Gloria, und ich hatte es so eingerichtet, dass Arlene die Begünstigte war, sollte mir etwas zustoßen, wie beispielsweise versehentlich von einem Güterzug überrollt zu werden. Die Versicherungssumme war nicht allzu hoch, nur fünfundzwanzigtausend Dollar, dennoch wäre das mehr als genug, um sie durch die ersten Jahre am College zu bringen. Vielleicht würde das Geld sogar für die gesamte Zeit dort reichen. So oder so, es würde ihr ein wenig Luft verschaffen, um an der Verwirklichung der Träume zu arbeiten, die sie für ihr Leben hatte.
    Ich gebe zu, ich hoffte selbstsüchtig, dass sie Gutes von mir denken und vielleicht die Mauer einreißen würde, die sie um ihr Herz gebaut hatte, um mich auszuschließen, aber letzten Endes würde nichts davon wirklich zählen. Zumindest würde ich ihr helfen, würde endlich ihr Vater sein statt der vergessene Loser, der ständig alles versaute.
    Am Briefkasten überprüfte ich noch einmal die Adresse und vergewisserte mich, dass die Briefmarken fest auf dem Umschlag klebten. Mit Tränen in
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