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Amputiert

Amputiert

Titel: Amputiert
Autoren: Gord Rollo
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unter Kontrolle hält. Was immer es ist, man fühlt sich damit gut und sicher, kann damit eine Weile mit den Adlern kreisen; nur ist es ein verflucht tiefer Sturz zurück auf den Boden. Träume waren etwas für gewöhnliche Menschen, nicht für Typen wie mich. Jedes Mal, wenn ich zu dreist wurde und mir einzubilden begann, ich könne es wieder in die echte Welt hinausschaffen, bäumte sich der Drache auf und biss mir in den Hintern, um dafür zu sorgen, dass ich meinen Platz kannte.
    Jedem das Seine, aber der Name meines Drachen lautete Sterno – jener stinkende Brennstoff mit blauen Flammen, den die Leute verwendeten, um sich bei Skiausflügen die Hände zu wärmen oder um in diesen großen Gläsern Brandy zu karamellisieren, wenn man in teuren Restaurants Kaffee zum Dessert bestellte. Man kann Sterno problemlos kaufen, aber das Zeug ist teuer, und um ehrlich zu sein, ich brauchte es nicht zu kaufen. Ich brach in Autos ein, um es mir zu besorgen. Unter alteingesessenen Straßenbewohnern, besonders unter jenen, die lange genug überlebt haben, um zu lernen, wie der Hase hier oben in den kälteren Klimaregionen läuft, gilt es als Allgemeinwissen, dass die Notfalltaschen, die Leute im Handschuhfach oder unter den Vordersitzen mitführen, Goldminen im Kleinformat sind. Sie enthalten genau das, was wir regelmäßig brauchen: Streichhölzer, Pflaster, Aspirin, Nadel und Zwirn, Schokolade und – Überraschung – einen kleinen Behälter mit Sterno-Brennstoff, falls man im Schneegestöber eine Panne hat und etwas Wärme braucht, um eine kalte Nacht zu überstehen, bis Hilfe eintrifft.
    Man seiht es durch eine Scheibe Brot ab. Dadurch entfernt man einen Großteil des giftigen Drecks, dann trinkt man den Alkoholsud, der übrig bleibt. Versuchen Sie es nicht; es schmeckt abscheulich, erinnert stark an Methanol, aber Mann, alle Probleme verfliegen im Nu.
    Jedenfalls hievte ich mich schließlich würgend in sitzende Position und erinnerte mich, dass meine letzte Mahlzeit bereits einige Tage zurücklag. Ich war durstig. Wirklich durstig, und wie durch Magie tauchte vor meinen Augen eine Flasche mit Wasser auf. Eine Hand hielt die Flasche, und mein Blick folgte dem dunkelhäutigen Arm nach oben. Überrascht sah ich, dass der einzige echte Freund, den ich auf der Welt noch hatte, auf mich herablächelte.
    Blue J war ziemlich in Ordnung, wenn man über seine wachsende Neigung hinwegsehen konnte, Klebstoff zu schnüffeln, und über seine schwer eklige Gewohnheit, sich anzukotzen, während er den Chemierausch ausschlief.
    Als ich ihm das erste Mal begegnete, war sein Name Jason, und er sah echt gut aus. Groß, dunkle eindringliche Augen, glatte schwarze Haut – ein wenig erinnerte er an Wesley Snipes, allerdings ohne dessen Haltung. Leider hatte ihm das Leben auf der Straße sein gutes Aussehen geraubt. Seine schöne Ebenholzhaut war teigig und ausgebleicht geworden; aus irgendeinem seltsamen Grund wirkte sie mittlerweile einen Farbton näher bei Blau als bei Schwarz. Ich wusste nicht, ob es an all dem Klebstoff lag, den er schnüffelte, oder an dem billigen Fusel, den er soff, aber deshalb habe ich seinen Namen geändert. Wie ich ihn auch nannte, er war trotz seines üblen Teints ein anständiger Kerl.
    »He Kumpel. Willst ‘n Schluck?«
    Mann, und ob. Ich hatte einen widerwärtigen Geschmack im Mund und konnte mir nur vorstellen, wie grässlich mein Atem in dem Moment stinken musste. Ich ergriff die Flasche und leerte sie mit einer Reihe von gierigen Schlucken. Erst, als ich fertig war und die Flasche zurückgab, fiel mir auf, dass mein Freund nicht allein war. Er hatte eine Frau dabei. Na ja, eigentlich eher ein Mädchen als eine Frau, aber wer war ich, dass ich mir ein Urteil anmaßte. Jedenfalls war sie hübsch. Dunkle Haare, nette Beine und ein knackiger Hintern, in ein Kleid gezwängt, das zwei Nummern zu klein war. Sie war ein wenig dreckig und abgehärmt, aber hey, waren wir das nicht alle?
    »Das is’ mein Kumpel Mike«, sagte Blue J zu ihr.
    Offensichtlich zufrieden nickte sie. Ich hätte mich nach ihrem Namen erkundigen können, aber ich hatte eine gute Vorstellung davon, worauf das hier hinauslaufen würde, also war ihr Name nicht wirklich wichtig. Ich setzte ein verkrampftes Lächeln auf – das Beste, was ich mit nach wie vor pochendem Schädel zustande brachte – und schwamm mit dem Strom.
    »Was liegt an, J?«, fragte ich, betrachte den kurvigen Körper des Mädchens und ging nahtlos von einer Sünde zur
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