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Amputiert

Amputiert

Titel: Amputiert
Autoren: Gord Rollo
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hinlegen würde, um zu versuchen, rechtzeitig anzuhalten. Ich wollte, dass der Zug volles Tempo draufhatte, wenn wir uns küssten. Auf diese Weise musste es weniger schmerzhaft sein, außerdem wäre der Schaden an meinem Körper größer. Besonders so, wie ich saß, ein Bein auf jeder Seite der Schiene.
    Das Pfeifen war von links gekommen, und plötzlich gerieten der Schienenräumer und der Kühlergrill des großen Dieseltriebwerks in Sicht. Trotz der Kurve konnte ich in diese Richtung ungehindert ziemlich weit blicken, aber es war immer noch schwierig abzuschätzen, wie weit sich der Zug entfernt befand oder wann er mich erreicht haben würde. Ich konnte nur abwarten.
    Willst du es wirklich auf diese Weise tun?
    Gute Frage. Ich war nervös und verängstigt. Das ließ sich nicht leugnen. Viel verängstigter als damals auf der Brücke an der Carver Street in Buffalo. Es gab keinen besonderen Grund dafür – ich war mehr als bereit zu sterben, froh darüber, Arlene vielleicht endlich helfen zu können und aufgeregt über die Möglichkeit, unter Umständen meine Frau und meinen Sohn wiederzusehen. Sich jedoch vorsätzlich mitten in den Weg einer rasenden Lokomotive zu setzen, das erfordert eine Menge Mut und lässt selbst die Tapfersten ihr Vorhaben überdenken.
    Vielleicht sollte ich mich sofort erschießen und meinen Körper vom Zug zerstören lassen, wenn ich bereits tot bin.
    Das klang zwar verlockend, aber es würde vielleicht nicht funktionieren. Ich war nicht besonders massig und machte mir ernsthafte Sorgen, dass ich zwischen die Schienen kippen und der Zug über mich hinwegrauschen würde, ohne mich zu berühren. Womöglich würde er mir ein Bein oder einen Fuß abtrennen, aber auch dadurch würde den Wissenschaftlern mehr von mir bleiben, als ich akzeptabel fand. Nein, ich hatte es so weit geschafft und war fest entschlossen, es bis zum Ende durchzustehen.
    Soweit ich zurückdenken kann, schon als kleiner Junge, habe ich Züge geliebt, und von einem überfahren zu werden, war keine so üble Art zu sterben, wie man vielleicht annehmen könnte. Der Anblick danach ist absolut grausig, aber der Tod würde schnell und relativ schmerzlos einsetzen. Ein kurzes PENG , und es wäre vorbei. Mein Körper würde wohl über eine Meile entlang der Gleise verteilt werden, aber mein Leiden würde nur eine Sekunde dauern. Das war nicht so schlimm. Ich würde es aushalten.
    Der Zug näherte sich qualmend, befand sich noch an die zweihundert Meter entfernt. Ich schloss die Augen und versuchte, ein Bild von Jackie heraufzubeschwören. Ich dachte, der Anblick meiner Frau wäre perfekt, um die Dinge zu beenden, doch mit dem Wissen, dass der Zug auf mich zuraste, gelang es mir nicht. Ich konnte die Augen nicht geschlossen halten; irgendein masochistischer Drang zwang mich, zu beobachten, wie mein Tod auf mich zukam.
    Noch etwa einhundertzwanzig Meter.
    Bislang wiesen weder ein weiteres Pfeifen noch das schrille Kreischen der Bremsen darauf hin, dass mich jemand gesehen hatte. Das war gut. Bei der Geschwindigkeit, mit der die Lokomotive fuhr, wäre nicht mehr genug Strecke zwischen uns übrig, um den Zug anzuhalten, selbst wenn mich jetzt noch jemand bemerken würde. Es gab kein Zurück mehr, wie man so schön sagte, und der Gedanke brachte mich zum Lächeln. Ich hatte in den vergangenen viereinhalb Jahren reichlich gelitten – vom tragischen Autounfall meiner Familie über den anschließenden Verfall, der dazu führte, dass mich meine Tochter hasste und ich auf der Straße lebte, bis hin zu meiner Zeit in der Hölle bei Dr. Marshall und Drake. Nun kam alles zu einem Ende. Es hätte bereits damals in Buffalo enden sollen, bevor ich mich von Drake und dem Versprechen schnellen Reichtums auf einen wahnwitzigen Umweg locken ließ, dennoch war ich letztlich gar nicht unglücklich über meinen Fehler.
    Hätte ich mich umgebracht, wie ursprünglich geplant, wären Dr. Marshall und Drake noch am Leben und würden ihre kranke Vorstellung von wissenschaftlichem Fortschritt noch über Jahre – vielleicht über Jahrzehnte – fortsetzen. Unzählige Menschen hätten durch ihre grausamen Hände gelitten, wären durch sie gestorben, aber nun würde das nicht mehr geschehen. Ich betrachtete mich keinesfalls als Held, trotzdem hatte ich zumindest mir bewiesen, dass ich mehr war als der nutzlose, entbehrliche Penner, für den sie mich gehalten hatten. Auch wenn es in diesem Augenblick eine sinnlose Vorstellung war – vielleicht wäre meine
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