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Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Titel: Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums
Autoren: Stefan Zweig
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bringen, ihre Karawanen ziehen die Straßen auf endlosen Reisen entlang; nein, sie sind keine rohen Gesellen, wie man vermeint, sie kennen die Erde und ihr Geheimnis. Sie haben Karten und Tafeln, auf denen alles geschrieben und verzeichnet ist. Sie haben Weise, die den Lauf der Sterne kennen und die Gesetze, nach denen sie sich bewegen. Sie haben Länder und Meere erobert, allen Reichtum, allen Handel, alle Lust des Daseins an sich gerissen und sind doch nicht bessere Krieger als die deutsche, die französische Ritterschaft.
    Wie haben sie es gemacht? Sie haben gelernt. Sie haben Schulen und in den Schulen die Schriften, die alles überliefern und erklären. Sie wissen die Weisheit der alten Gelehrten des Abendlands und haben sie gemehrt mit neuen Kenntnissen. Man muß also lernen, um die Welt zu erobern. Man darf nicht nur in Turnieren und wüsten Schlemmereien seine Kraft vertun, man mußauch den Geist biegsam und scharf und wendig machen wie eine Toledanerklinge. Also lernen, denken, studieren, beobachten! In ungeduldigem Wettlauf reiht sich eine Universität neben die andere, in Siena und Salamanca, in Oxford und Toulouse, jedes Land Europas will die Wissenschaft zuerst für sich; nach Jahrhunderten der Gleichgültigkeit versucht der abendländische Mensch wieder das Geheimnis der Erde, des Himmels und des Menschen zu ergründen.
    1300. Europa hat die theologische Kapuze abgerissen, die ihm den freien Blick in die Welt verschlossen. Es hat keinen Sinn, immer nur über Gott zu grübeln, keinen Sinn, immer nur die alten Texte scholastisch neu auszulegen und zu diskutieren. Gott ist der Schöpfer, und da er den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen, will er ihn schöpferisch. In allen Künsten, allen Wissenschaften sind noch Vorbilder hinterlassen von den Griechen, den Römern; man kann sie vielleicht erreichen, man kann wieder können, was die Antike einstmals konnte. Mag sein, man kann sie sogar übertreffen. Ein neuer Mut entzündet sich im Abendlande. Man beginnt wieder zu dichten, zu malen, zu philosophieren, und siehe, es gelingt. Es gelingt wunderbar. Ein Dante ersteht und ein Giotto, ein Roger Bacon und die Meister der Dome. Kaum daß er zum erstenmal die lang entwöhnten Schwingen gerührt, durchstößt der befreite Geist alle Fernen und Weiten.
    Aber warum bleibt unter ihm die Erde so eng? Warum die irdische, die geographische Welt sobegrenzt? Überall ist das Meer und das Meer und das Meer um alle Küsten und damit das Unbekannte und Unbetretbare, dieser unübersehbare Ozean, » ultra nemo scit quid contineatur «, von dem niemand weiß, was er verbirgt. Einzig gen Süden geht über Ägypten ein Weg nach den Traumländern Indiens, aber der ist gesperrt von den Heiden. Und über die Säulen des Herkules, die Enge von Gibraltar, darf kein Sterblicher sich wagen. Ewig wird sie das Ende aller Abenteuer bedeuten, nach Dantes Wort:
    » ... quella foce stretta
Ov'Ercole segnò li suoi riguardi
Acciocchè l'uom più oltre non si metta. «
    Ach, kein Weg führt hinaus ins » mare tenebrosum «, kein Schiff wird wiederkehren, das seinen Kiel in diese dunkle Wüste wendet. Der Mensch muß leben in einem Raume, den er nicht kennt; man ist eingeschlossen in eine Welt, deren Maß und Gestalt man wohl nie ergründen wird.
    1298. Zwei alte, bärtige Männer, begleitet von einem jungen, offenbar Sohn eines dieser beiden, landen mit einem Schiff in Venedig. Sie tragen sonderbare Kleider, wie man sie niemals am Rialto gesehen, lange dicke Röcke, mit Pelzen verbrämt, und merkwürdige Behänge. Aber noch sonderbarer: diese drei Fremden sprechen den echtesten venezianischen Dialekt und behaupten Venezianer zu sein, Polo zu heißen, und Marco Polo nennt sich der jüngere. Es ist natürlich nicht ernst zu nehmen, was sie erzählen. Sieseien vor mehr als zwei Jahrzehnten von Venedig durch die moskowitischen Reiche, durch Armenien und Turkestan bis nach Mangi, nach China gekommen und hätten dort gelebt am Hofe des mächtigsten Herrschers der Erde, des Kubla Khan. Sie hätten sein ganzes riesiges Reich durchwandert, gegen das Italien sei wie eine Nelke neben einem Baumstamm, sie seien an den Rand der Welt gekommen, wo wieder der Ozean ist. Und wie der große Khan nach Jahren sie mit vielen Geschenken aus seinen Diensten entlassen, seien sie von diesem Ozean nach der Heimat zurückgefahren, zuerst vorbei an Zipangu und den Inseln der Gewürze und der großen Insel Tapropane (Ceylon) und dann an dem persischen Meerbusen, und
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