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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer
Autoren: Paulo
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der anderen Seite.
    »Die hat dir gehört«, sagte er, als er mein überraschtes Gesicht sah.
    Mein Herz schlug wieder Alarm.
    »Eines Tages, es war Herbst, genau wie jetzt, und wir waren etwa zehn Jahre alt, da habe ich mich mit dir auf den Platz mit der großen Eiche gesetzt. Ich wollte gerade etwas sagen, was ich wochenlang eingeübt hatte, da fielst du mir ins Wort und meintest, du hättest deine Medaille bei der Einsiedelei des heiligen Saturius verloren, und dann hast du mich gebeten, sie für dich zu suchen.«
    Ich erinnerte mich. Und ob ich mich daran erinnerte!
    »Ich habe sie schließlich gefunden. Doch als ich zum Platz zurückkam, traute ich mich nicht mehr, dir das zu sagen, was ich eingeübt hatte«, fuhr er fort. »Und da habe ich mir geschworen, daß ich dir die Medaille erst dann wiedergeben würde, wenn ich den Satz zu Ende bringen könnte, den ich an jenem Tag vor beinah zwanzig Jahren angefangen hatte. Lange habe ich versucht, ihn zu vergessen, doch der Satz war immer gegenwärtig. Ich kann nicht weiter mit ihm leben.«
    Er hatte seine Tasse abgesetzt, eine Zigarette angezündet und starrte zur Decke. Dann wandte er sich mir zu.
    »Der Satz ist ganz einfach«, sagte er. »Ich liebe dich.«
    Manchmal erfüllt uns eine Traurigkeit, gegen die wir nichts tun können, sagte er. Uns wird bewußt, daß der magische Augenblick eines bestimmten Tages vorbei ist und wir ihn nicht ergriffen haben. Dann verbirgt das Leben seine Magie und seine schöpferische Kraft.
    Wir müssen auf das Kind hören, das wir einmal waren und das es immer noch in uns gibt. Dieses Kind erkennt die magischen Augenblicke. Wir können zwar sein Weinen ersticken, doch seine Stimme können wir nicht zum Schweigen bringen.
    Dieses Kind, das wir einst waren, ist immer da. Selig sind die Kinder, denn das Himmelreich ist ihr.
    Wenn wir nicht aufs neue geboren werden, wenn wir das Leben nicht wieder mit der Unschuld und der Begeisterung der Kindheit betrachten können, hat das Leben keinen Sinn mehr.
    Es gibt viele Arten, sich selbst zu töten. Diejenigen, die versuchen, ihren Körper zu töten, übertreten Gottes Gesetz. Diejenigen, die versuchen, ihre Seele zu töten, übertreten auch Gottes Gesetz, obwohl dieses Verbrechen für das menschliche Auge weniger sichtbar ist.
    Wir sollten auf das hören, was das Kind sagt, das wir in unserer Brust tragen. Wir sollten uns seiner nicht schämen. Wir sollten nicht zulassen, daß es sich fürchtet, weil es allein ist und wir ihm fast nie zuhören.
    Wir sollten ihm die Zügel unseres Daseins überlassen. Wir sollten ihm Vergnügen bereiten – auch wenn dies bedeutet, daß wir anders handeln, als wir es gewohnt sind, auch wenn es in den Augen der anderen dumm erscheinen mag.
    Vergeßt nicht, daß die Weisheit des Menschen vor Gott Torheit ist. Wenn wir auf das Kind hören, das wir in der Seele tragen, werden unsere Augen wieder leuchten. Wenn wir den Kontakt zu diesem Kind nicht verlieren, verlieren wir auch nicht den Kontakt zum Leben.
    Die Farben um mich herum wurden intensiver; ich merkte, daß ich lauter sprach und das Glas heftiger wieder auf den Tisch stellte.
    Ein gutes Dutzend war direkt nach dem Vortrag mit zum Abendessen gegangen. Alle redeten durcheinander, und ich lächelte – lächelte, weil diese Nacht anders war als die anderen. Es war die erste Nacht seit vielen Jahren, die ich nicht geplant hatte.
    Es war wunderbar!
    Als ich beschlossen hatte, nach Madrid zu fahren, hatte ich meine Gefühle und mein Handeln unter Kontrolle. Plötzlich war alles anders. Ich befand mich in einer Stadt, in der ich nie gewesen war, obwohl sie keine drei Stunden von meiner Geburtsstadt entfernt lag. Ich saß an einem Tisch mit Leuten zusammen, die ich nicht kannte – und alle redeten mit mir, als kennten sie mich schon lange. Ich war überrascht über mich selbst, weil ich reden, trinken und mich mit ihnen amüsieren konnte.
    Ich war dort, weil mich das Leben unvermittelt dem Leben wiedergegeben hatte. Ich fühlte mich nicht schuldig, hatte weder Angst, noch schämte ich mich. Während ich bei ihm war und ihm zuhörte, wurde mir immer bewußter, daß er recht hatte: Es gibt Augenblicke, in denen man etwas wagen, verrückte Dinge tun muß.
    ›Da sitze ich Tag für Tag über meinen Büchern und Heften und mache übermenschliche Anstrengungen, um mir meine eigene Versklavung zu erkaufen‹, dachte ich. ›Warum will ich unbedingt diese Anstellung haben? Was wird sie mir als Mensch, als Frau
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