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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer
Autoren: Paulo
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wenn es auch eine Frau nicht eleganter oder weltgewandter macht, auf unser Herz zu hören – und unserem Instinkt zu folgen. Zu meiner großen Überraschung sagte mir mein Instinkt, daß er es ernst meinte.
    Ich atmete erleichtert auf. Ich würde natürlich nicht zu dem Vortrag gehen, aber zumindest war mein lieber Freund wieder zurück, wollte mich an seinen Abenteuern, seinen Ängsten und Siegen teilhaben lassen.
    »Vielen Dank für die Einladung«, antwortete ich. »Aber ich habe kein Geld für ein Hotel, ich muß wieder zurück zu meinen Büchern.«
    »Ich habe etwas Geld. Du kannst in meinem Zimmer schlafen. Wir nehmen ein Zimmer mit zwei getrennten Betten.«
    Ich bemerkte, daß er zu schwitzen begann, obwohl es kalt war. Mein Herz sandte Alarmsignale aus, die ich nicht entschlüsseln konnte. An die Stelle der Freude, die ich eben noch verspürt hatte, trat unendliche Verwirrung.
    Er hielt plötzlich den Wagen an, sah mir direkt in die Augen.
    Niemand kann lügen, niemand kann etwas verbergen, wenn man ihm direkt in die Augen sieht.
    Und jede Frau, die auch nur ein bißchen Einfühlungsvermögen besitzt, kann in den Augen eines verliebten Mannes lesen. Gleichgültig, wie absurd es anmuten mag, gleichgültig, ob diese Liebe sich unerwartet am falschen Ort und zur falschen Zeit zeigt. Ich dachte sofort an die Worte der rothaarigen jungen Frau am Brunnen.
    Es war unmöglich. Doch es stimmte.
    Ich hätte niemals, auf gar keinen Fall, gedacht, daß er sich nach so langer Zeit noch daran erinnerte. Damals waren wir Kinder, hatten unsere Zeit zusammen verbracht und hatten Hand in Hand die Welt entdeckt. Ich hatte ihn geliebt – wenn ein Kind überhaupt weiß, was Liebe bedeutet. Doch dies alles war vor langer, langer Zeit, in einem anderen Leben gewesen, in dem die Unschuld das Herz für das Beste offenhält, was das Leben zu bieten hat.
    Jetzt waren wir erwachsen und vernünftig. Und die Kindheit war eben die Kindheit.
    Ich sah ihm wieder in die Augen. Ich wollte es nicht glauben, oder konnte es nicht.
    »Ich muß noch diesen Vortrag halten, und dann kommen die Empfängnis-Mariä-Feiertage. Ich muß in die Berge«, fuhr er fort. »Ich muß dir etwas zeigen.«
    Dieser brillante Mann, der von magischen Augenblicken sprach, saß neben mir und verhielt sich völlig unvernünftig. Er war unsicher, verhedderte sich, machte wirre Vorschläge. Ich konnte es kaum mit ansehen.
    Ich öffnete die Wagentür, stieg aus, lehnte mich an den Wagen. Sah eine Zeitlang den beinahe menschenleeren Boulevard hinunter. Zündete mir eine Zigarette an und versuchte, an nichts zu denken. Ich könnte so tun, als hätte ich nichts gemerkt, so tun, als hätte ich es nicht verstanden – ich könnte mir selbst einreden, daß es tatsächlich nur der Vorschlag eines Freundes an eine Jugendfreundin gewesen war. Vielleicht war er zu lange unterwegs gewesen und brachte daher alles durcheinander.
    Aber vielleicht übertrieb ich ja.
    Er sprang aus dem Wagen und stellte sich neben mich.
    »Ich würde mich freuen, wenn du zum Vortrag heute abend hierbleiben würdest«, sagte er noch einmal. »Aber wenn du nicht kannst, verstehe ich das.«
    Gut so. Die Welt hatte sich einmal um die eigene Achse gedreht und war an ihren Platz zurückgekehrt. Es war nichts von dem, was ich gedacht hatte. Er beharrte nicht weiter, war schon bereit, mich gehen zu lassen. Verliebte Männer verhalten sich nicht so.
    Ich fühlte mich gleichzeitig verrückt und erleichtert. Ja, ich könne bleiben, zumindest noch einen Tag. Wir würden zusammen zu Abend essen und uns ein bißchen betrinken – früher in Soria hatten wir das nie gemacht. Es war eine gute Gelegenheit, um den Unsinn zu vergessen, den ich wenige Minuten zuvor gedacht hatte, und auch, um das Eis zu brechen, das uns seit Madrid getrennt hatte.
    Auf einen Tag mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. Außerdem hätte ich dann vielleicht auch meinen Freundinnen etwas zu erzählen.
    »Getrennte Betten also«, flachste ich. »Und du bezahlst das Abendessen, denn ich bin immer noch Studentin. Ich habe kein Geld.«
    Wir brachten die Koffer aufs Zimmer und gingen dann vom Hotel bis zu dem Ort, an dem der Vortrag stattfinden sollte. Wir waren zu früh da und setzten uns in ein Cafe.
    »Ich möchte dir etwas geben«, sagte er und reichte mir einen kleinen roten Beutel.
    Ich machte ihn sofort auf. Darin war eine alte, verrostete Medaille, mit der Heiligen Jungfrau der Gnade auf der einen und dem Heiligen Herz Jesu auf
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