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Am Ufer

Am Ufer

Titel: Am Ufer
Autoren: Paulo
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sie stehen und deutete zum Himmel hinauf.
    »Da ist der Mond – oder besser die Mondin«, sagte sie.
    Der Vollmond schien durch die kahlen Zweige hindurch.
    »Er ist schön«, meinte ich.
    Doch sie hörte mir nicht zu. Sie breitete, die Handflächen nach oben gewandt, die Arme aus und blieb in die Betrachtung des Mondes versunken stehen.
    ›Wo bin ich bloß hineingeraten‹, dachte ich. ›Ich kam her, um mir einen Vortrag anzuhören, und jetzt stehe ich mit dieser Verrückten auf dem Paseo de la Castellana, und morgen reise ich nach Bilbao.‹
    »Du Spiegel der Göttin Erde«, sagte das junge Mädchen mit geschlossenen Augen. »Lehr uns unsere Macht, mach, daß die Menschen uns verstehen. In deinem Wachsen, deinem Strahlen, deinem Ersterben und Wiederauferstehen hast du uns den Zyklus des Samens und der Frucht gezeigt.«
    Die junge Frau reckte die Arme zum Himmel und blieb lange so stehen. Die Passanten schauten sie an und lachten, doch sie bemerkte es nicht, während ich im Boden hätte versinken mögen, weil ich neben ihr stand.
    »Ich mußte das einfach tun«, sagte sie, nachdem sie Luna lange gehuldigt hatte. »Die Göttin möge uns beschützen.«
    »Wovon redest du eigentlich?«
    »Von genau dem, was dein Freund gesagt hat, nur mit wahren Worten.«
    Ich bereute nun, den Vortrag nicht aufmerksamer verfolgt zu haben. Ich wußte einfach nicht mehr, was er gesagt hatte.
    »Wir kennen das weibliche Antlitz Gottes«, sagte sie, als wir weitergingen. »Wir, die Frauen, die wir die Große Mutter verstehen und lieben. Wir haben unser Wissen mit Verfolgung und Scheiterhaufen bezahlt, doch wir haben überlebt. Und nun begreifen wir ihr Geheimnis.«
    Scheiterhaufen. Hexen.
    Ich sah mir die junge Frau neben mir genauer an. Sie war hübsch, ihr rotblondes Haar fiel ihr fast bis auf die Taille.
    »Während die Männer auf die Jagd gingen, blieben wir in den Höhlen zurück, im Leib der Mutter, und kümmerten uns um unsere Kinder«, fuhr sie fort. »Und es war die Große Mutter, die uns alles lehrte.
    Das Leben des Mannes war Bewegung, wir aber blieben im Leib der Mutter. So lernten wir, daß die Samen zu Pflanzen wurden, und sagten es unseren Männern. Wir backten das erste Brot und ernährten sie. Wir formten das erste Gefäß, damit sie daraus trinken konnten. Und wir begriffen den Zyklus der Schöpfung, denn unser Körper wiederholte den Rhythmus des Mondes.«
    Unvermittelt blieb sie stehen.
    »Da ist sie.«
    Ich schaute. Mitten auf einem allseits vom Verkehr umbrandeten Platz stand ein Brunnen. Inmitten des Brunnens eine Skulptur, die eine Frau mit einem Löwengespann darstellte.
    »Das ist der Kybele-Platz«, sagte ich, um zu zeigen, daß ich Madrid kannte. Ich hatte diese Skulptur schon zigmal auf Postkarten gesehen.
    Doch sie hörte mir nicht zu. Sie war bereits mitten auf der Fahrbahn, versuchte hakenschlagend durch den Verkehr zu kommen.
    Ich beschloß, sie einzuholen, nur um sie nach einem Hotel zu fragen. Soviel Verrücktheit machte mich fertig, und ich sehnte mich nach einem Bett.
    Wir gelangten fast gleichzeitig zum Brunnen. Mir schlug das Herz bis zum Hals, sie hatte ein Lächeln auf den Lippen.
    »Das Wasser«, sagte sie. »Im Wasser offenbart sie sich.«
    »Bitte, ich brauche den Namen eines Hotels.«
    Sie tauchte ihre Hände in den Brunnen.
    »Mach du es auch«, sagte sie zu mir. »Berühr das Wasser.«
    »Auf gar keinen Fall. Aber ich will nicht weiter stören. Ich werde mir selbst ein Hotel suchen.«
    »Nur einen Augenblick noch.«
    Die junge Frau zog eine kleine Flöte aus der Tasche und begann zu spielen. Die Musik wirkte hypnotisierend: das Geräusch des Verkehrs trat in den Hintergrund, und mein Herz beruhigte sich.
    Ich setzte mich auf den Brunnenrand, lauschte, den Blick zum Vollmond über uns gewandt, dem Rauschen des Wassers und dem Klang der Flöte. Irgend etwas sagte mir, obwohl ich es nicht recht verstand, daß ich dort meiner Natur als Frau nahe war.
    Ich weiß nicht, wie lange sie spielte. Als sie aufgehört hatte, wandte sie sich zum Brunnen.
    »Kybele«, sagte sie. »Eine der Verkörperungen der Großen Mutter. Sie herrscht über die Ernte, erhält die Städte, gibt der Frau ihre Rolle als Priesterin zurück.«
    »Wer bist du?« fragte ich. »Warum wolltest du, daß ich dich begleite?«
    Sie wandte sich mir zu: »Ich bin das, wofür du mich hältst. Ich gehöre zu denen, die die Mutter Erde als höchste Gottheit betrachten.«
    »Was willst du von mir?« beharrte ich.
    »Ich kann in deinen
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