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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition)
Autoren: Rafael Chirbes
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er wird sich nicht bewegen, bis ich zurück bin. Nach dem Western kommt ein Film über Terroristen, grimmige Araber geben guttu rale Laute von sich, dazu Untertitel, die keiner auf dem Schirm lesen kann; oder auch ein Krimi, in dem die Polizei schwarze oder südamerikanische Drogenhändler verfolgt, unter großem Aufgebot von Autos, die kreischend aus den Kurven schlittern, zusammenstoßen und schließlich von einer Eisenbrücke in die Tiefe stürzen. Der Alte wird weiter die Augen starr auf den Fernseher richten oder sie vielleicht dösend schließen, was aufs Gleiche hinauskommt. Tatsächlich blickt er mit eben dem Interesse auf die Badezimmerwand, wenn ich ihn wasche, oder auf die Zimmerdecke, wenn ich ihn ins Bett lege. Wichtig ist nur, dass er nicht versucht aufzustehen und dabei stürzt. Um das zu verhindern, setze ich ihn in den großen, niedrigen Sessel, in dem sein Körper versinkt und aus dem er, selbst wenn er wollte, nicht hochkäme, es fehlt ihm die Kraft, sich auf die Füße zu stellen; damit er nicht fällt, binde ich außerdem noch ein Laken um seine Brust und die Rückenlehne des Sessels, achte darauf, dass es ihn nicht drückt. Ich vergewissere mich, dass er den Oberkörper vor und zurück bewegen kann. So ist es gut, es drückt doch nicht, oder?, sage ich, um etwas zu sagen, frage, um etwas zu fragen, denn seit Monaten spricht der Alte nicht mehr, und man weiß auch nicht recht, ob er guckt; sehen kann er noch, denn erschließt die Augen, wenn ich mich mit einem starken Licht nähere oder ihm das Gesicht zu einer Glühbirne hindrehe, und er geht auch mit dem Kopf mit, wenn ich langsam meine Hand vor seinen Augen bewege; hören kann er auch, aber es ist nicht sicher, ob er etwas versteht: Wenn ich ihn anschreie oder hinter ihm ein lautes Geräusch ist, zuckt er zusammen und sein Blick ist angstvoll. Er hat aufgehört zu sprechen, nachdem man ihn operiert und den Tumor aus der Luftröhre entfernt hat. Er kann nicht reden, aber er könnte schreiben, schriftlich seine Wünsche äußern, durch Gesten etwas verständlich machen, aber auch das tut er nicht. Er zeigt nicht das geringste Bedürfnis, sich mitzuteilen. Die Ärzte haben ihn getestet, den Kopf gescannt, und sie sagen, sein Hirn sei nicht beschädigt, sie können sich nicht erklären, was mit ihm los ist. Das Alter. Über neunzig. Er hat sich in eine Gliederpuppe verwandelt. Nicht dass ich an dem interessiert wäre, was er mir erzählen könnte, dabei verbringe ich mehr Zeit damit, ihn zu beobachten, seitdem Liliana nicht mehr kommt und ich die Schreinerei geschlossen habe. Ich betrachte ihn, studiere ihn, mache Lernübungen, die kaum Erfolg versprechen, keinerlei praktischen Nutzen haben. Das Menschenleben ist die größte ökonomische Verschwendung in der Natur: Wenn du gerade mal anfangen könntest, aus all dem, was du gelernt hast, Nutzen zu ziehen, stirbst du. Und jene, die nachkommen, beginnen wieder bei null. Aufs Neue dem Kind das Laufen beibringen, es zur Schule schicken, auf dass es einen Kreis von einem Quadrat unterscheidet, Rot von Gelb, das Feste vom Flüssigen, das Harte vom Weichen. Das hat er mir beigebracht. Das Leben als Verschwendung. Es so hinzunehmen. Er war immer schlau, der Alte, so schlau wie hinterfotzig. Er brachte mir das bei, und ich wiederholte es Liliana gegenüber, womöglich nur aus sentimentaler Verlogenheit heraus. Ich packe meinen Krempel zusammen. Es ist Zeit, den Kiosk abzubauen, sagte ich zu ihr. Sie darauf: Es ist nie zu spät, etwas Neues kennenzulernen. Ich werde euch beiden einmal einen guten Sancocho zubereiten, das ist so wie ein Cocido bei euch, nur dass wirin den Eintopf Gemüse geben, das ihr kaum verwendet oder nicht einmal kennt, Arakacha, Maiskolben, Yucca, Gemüsebananen, und das Ganze bekommt die Duftnote von frischem Koriander, dieses Kraut, das ich hier so vermisst habe, bis ich es im kolumbianischen Internetcafé und in den muslimischen Läden gefunden habe. Eine Art duftender Petersilie. Wir Lateinamerikaner essen das, und die Marokkaner auch. Ich kauf es fast immer im marokkanischen Gemüseladen, dem neben dem Halal-Metzger, denn der liegt auf meinem Weg. Das Fleisch würde ich dort nie kaufen. Wer weiß schon, wo sie diese Lämmer, diese Ochsen geschlachtet haben. Ich hab im Fernsehen eine Reportage gesehen, da hieß es, in Spanien gebe es massenweise geheime Schlachthöfe, die arbeiten für die Muslime, anscheinend muss man die Tiere mit dem Blick nach Mekka schlachten, das sind so
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