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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition)
Autoren: Rafael Chirbes
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wie in Indien, Indonesien und im südlichen China. Denen war egal, welche Religion die Eingefangenen hatten, egal ob sie Christen, Muslime, Animisten, Hindus oder Buddhisten waren, jegliches Fleisch war gut, um damit die Käfige in den Lagerräumen der Schiffe zu füllen. Und was sagst du zu den osmanischen Khediven? Die waren beim Foltern noch brutaler als die Christen. Und was ist mit unseren Königen? Sind wir nicht hier, weil der verstorbene Hassan und dessen Sohn Mohamed, mitsamt Familie, uns vertrieben haben? Wir dienen den Christenhunden, weil unsere Hunde noch tollwütiger sind, uns die Zähne noch tiefer ins Fleisch schlagen. Hier behandelt man uns wie Dienstboten, daheim hat man uns wie Sklaven behandelt. Die Menschen, die menschliche Gattung, alles derselbe Dreck, egal an welchen Gott sie glauben oder zu glauben vorgeben. Wir alle kommen aus einer Möse. Du glaubst doch nicht, dass Allah die reichen Säcke aus Fezoder Marrakesch segnet, die mit großem Tamtam aus Mekka zurückkehren, ein Hupkonzert mit ihrem importierten Mercedes veranstalten, nur damit alle mitbekommen, dass sie sich die Pilgerschaft haben leisten können und sich von nun an Hadschi nennen dürfen? Glaubst du etwa, dass die besser dem Koran genügen? Weil sie sieben Mal die Kaaba umrundet haben, sieben Mal über die Hügel von Al-Safa und Al-Marwa gelaufen sind und aus dem Brunnen von Zam Zam getrunken haben? Ich laufe siebzig mal sieben Mal am Tag von hier nach da, um mir mein täglich Brot zu verdienen. Und trinke das salzige Wasser aus dem Brunnen, in den mein Schweiß geflossen ist. Und diese da demütigen unsereins von ihrem Luxushotel in Mekka aus, behaupten, die besseren Muslime zu sein, nur weil sie die Reise zahlen können und wir nicht. Pilger in der ersten Klasse Boeing – und überzeugt davon, vor dir, der du ein armer Schlucker bist, ins Paradies zu kommen. Gibt es in Allahs Paradies etwa auch Reiche und Arme, Leute, die im Mercedes vorfahren, und andere, die für sie die Klosetts putzen? Was ist das für eine Scheißreligion? Und das soll der Islam sein? Ich wette drauf, Abdelhak, dass diese Pilger schneller in der Hölle landen als die Christen. Darauf kannst du Gift nehmen.
    Ahmed hat sich gut einen Kilometer von der Stelle entfernt, wo Raschid ihn am Morgen abgesetzt hat. Zwei Nutten stehen an der Abzweigung zum Sumpf und schauen ihn argwöhnisch an, so kommt es ihm zumindest vor. Er weiß nie, ob ihn wirklich alle Welt scheel ansieht, weil er Marokkaner ist, oder ob er sich da nur selbst hineinsteigert und überall Misstrauen wittert. Er wird mit Raschid neben dem Weiher auf der Wiese essen, über die er gerade läuft. Bevor er von zu Hause weg ist, hat er Tee getrunken, Brot mit Öl gegessen, eine Tomate und eine Dose Sardinen; für den Tag hatte er zwei harte Eier, eine kleine Portion Saubohnen und panierte Lammkoteletts in eine Box gepackt, aber die Box hat er leider im Kofferraum von Raschids Auto vergessen (ich weiß nicht, warum du überhaupt etwas mitbringst, bewahr das doch fürs Abendessen auf, ichhole etwas aus der Küche, gutes Essen, sagt Raschid immer wieder.) Das Restaurant, für das er arbeitet, steht in allen Reiseführern, es gehört zu den besten in Misent, aber Ahmed ekelt sich ein wenig vor diesem wer weiß wie geschlachteten Fleisch, er mag lieber das, was er sich beim Halal-Metzger kauft und selbst zu Hause zubereitet, er mag traditionelles Beldi-Essen, deshalb packt er sich jeden Tag etwas ein, auch wenn er dann doch das isst, was Raschid mitbringt. Heute vermisst er schon länger seine Lunchbox. Er hat Hunger, schaut auf die Uhr. Raschid wird wie immer ein paar Tupperwares mitbringen, darin einwandfreie Speisen, die den Gästen aber nicht mehr serviert werden dürfen, dazu Obst oder Gemüse, das er klaut oder das man ihm gibt, weil es einen kleinen Makel hat. Das Licht wird allmählich matter, brüchiges Winterlicht, das alles, was es berührt, vergoldet. Der Spätnachmittag bietet Sanftes: die Wasseroberfläche, das Schilf, die fernen Palmen, die Bauten, die er gerade noch in der Ferne sieht, alles wird nach und nach golden; sogar der Ausschnitt des Meeres, das er von einer Düne, die er hochgeklettert ist, betrachtet, zeigt sich nicht mehr intensiv blau, sondern irisiert ebenfalls honigfarben. Er zündet eine Zigarette an, um den Hunger zu betäuben. Er beschließt, die Zeit bis zur Rückkehr des Freundes zu nutzen, und geht, nachdem er die Zigarette ausgeraucht hat, zurück zu der Stelle der
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