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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters
Autoren: Robert Silverberg
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Gestalt eines Jungen hervorschießen und über den Sims an den Rand des Kliffs laufen sehen konnte.
    Torlyri handelte, ohne zu denken, der Junge hatte schon begonnen, über die Brüstung zu klettern; aber Torlyri wirbelte herum, glitt nach links, packte ihn kräftig, es gelang ihr, ihn an der Ferse festzuhalten, bevor er in die Tiefe verschwand. Das Kind kreischte und stieß um sich, doch sie hielt es fest, zog es herauf und warf es neben sich auf den Boden.
    Die Augen des Jungen waren weit aufgerissen vor Furcht, aber es zeigte sich in ihnen auch Kühnheit und heller Heldenmut. Er blickte an Torlyri vorbei, um einen Blick auf die Uferhänge und den Fluß zu erhaschen. Torlyri stand sprungbereit über ihm, denn sie erwartete fast, daß das Kind noch einmal verzweifelt versuchen würde, an ihr vorbeizugelangen.
    »Hresh!« sagte sie. »Aber natürlich – Hresh! Wer sonst würde schon so was Dummes versuchen?«
    Der Junge war acht, Minbains Kind, wild und starrköpfig seit seiner Geburt. Hresh – immer-voller-Fragen, so hatten sie ihn neckend genannt, übersprudelnd von sträflicher, unerlaubter Wißbegier. Klein war er, schlank, fast zerbrechlich, ein ungebärdiges zappelndes Stück Tau von einem Jungen; ein gespenstisches Gesichtchen, dreieckig und in scharfen Winkeln von der breiten Stirn sich nach unten zuspitzend; riesige dunkle Augen, die rätselhafte scharlachrote Einsprengsel in der Iris auf wiesen. Alle sagten ihm nach, daß er gewißlich geboren war, Unruhe zu bringen und in Schwierigkeiten zu geraten. Dies hier, jetzt, das allerdings war kein harmloser Bubenstreich, den er sich da geleistet hatte.
    Torlyri schüttelte betrübt den Kopf. »Hast du den Verstand verloren? Was denkst du denn, was du da anstellen wolltest?«
    Leise sagte der Junge: »Ich hab nur sehen wollen, was da draußen ist, Torlyri. Den Himmel. Den Fluß. Und alles.«
    »Das alles hättest du an deinem Namenstag sehen können.«
    Er zuckte die Achseln. »Aber bis dahin ist es noch ein ganzes Jahr! Solang kann ich nicht warten.«
    »Das Gesetz ist das Gesetz, Hresh. Und wir alle beugen uns ihm – zum Besten aller. Stehst du über dem Gesetz?«
    Bockig wiederholte er: »Ich hab doch nur sehen wollen. Nur mal so einen einzigen Tag lang, Torlyri!«
    »Weißt du denn nicht, was mit denen geschieht, die das Gesetz übertreten?«
    Hresh zog die Stirn in Falten. »Also, so genau weiß ich das nicht. Aber es ist bestimmt was ziemlich Schlimmes, wie? Was wirst du mit mir machen?«
    »Ich? Nichts. Die Geschichte geht Koshmar an.«
    »Also, was wird dann sie mit mir machen?«
    »Irgendwas. Ich weiß es nicht. Es wurden schon welche getötet, weil sie das versucht haben, was du da versucht hast.«
    »Getötet?«
    »Ja. Ausgestoßen aus dem Kokon. Und das ist das sichere Todesurteil. Kein Mensch könnte dort draußen allein lange überleben. Schau dort hinunter, Junge!«
    Sie wies den Hang hinab und auf das Gebreit gebleichter Knochen.
    »Was ist denn das?«
    Torlyri faßte den mageren Arm des Kindes und preßte den Knochen unter dem Fleisch. »Skelette. Auch in dir drin ist so eins. Und wenn du hinaus gehst, dann bleiben deine Knochen dort unten auf dem Hügelhang. So geht es uns allen.«
    »Allen, die jemals hinausgegangen sind?«
    »Da liegen sie alle, Hresh. Wie Stücke von altem Holz, wie Zweige, die in den Winterstürmen umhergewirbelt werden.«
    Hresh bebte. »Dann sind es aber nicht genug«, sagte er mit plötzlicher Keckheit. »Diese ganzen Jahre und Jahre und Jahre von Todes-Tagen – da müßte ja der ganze Hang hoch mit Skeletten bedeckt sein, so hoch, wie ich groß bin.«
    Torlyri konnte das unwillkürliche Lachen nicht unterdrücken und wandte kurz das Gesicht ab. So einen wie diesen kleinen Jungen gab es nicht noch einmal, oder? »Aber die Gebeine dauern nicht ewig, Hresh. Vielleicht bleiben sie fünfzig Jahre, hundert vielleicht, dann verwandeln sie sich in Staub. Was du da unten siehst, das sind die der in allerletzter Zeit Ausgeschiedenen.«
    Hresh dachte darüber nach.
    Mit gedämpfter Stimme sagte er dann: »Und das würden sie auch mit mir machen?«
    »Alles liegt in Koshmars Händen.«
    Plötzlich zuckte panische Furcht in den seltsamen Augen des Jungen auf. »Aber du wirst es ihr nicht sagen, ja? Bitte, sag nichts, Torlyri! Bitte!« Der Gesichtsausdruck wurde berechnend und etwas hinterhältig. »Du brauchst doch überhaupt gar kein Wort zu sagen, nicht? Und du hast mich ja auch fast nicht bemerkt. Einen Hauch später, und ich
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