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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters
Autoren: Robert Silverberg
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sie über den Rand des Felsensimses hinunter zum Fluß. Über den steilen kahlen Hang, auf dem nichts außer einigen kleinen knorrigen holzigen Krüppelsträuchern gedeihen konnte, lagen verstreut splittrige weißgebleichte Knochen wie willkürlich fallengelassene rindenlose Zweige. Da lagen die Knochen von Gonnari und die von Thekmur und die von Thrask, dem Vorgänger des Chronisten Thaggoran. Auch die Gebeine von Torlyris Mutter lagen unter diesen verstreuten Haufen, auch die ihres Vaters und jene von deren Vätern und Müttern. Jeder vom Volk, der je durch die Türluke getreten war, hatte hier an diesem abstürzenden Hang unter dem zornigen Kuß des Winters sein Ende gefunden.
    Torlyri überlegte sich, wie lange sie wohl noch leben mochten, alle jene, die aus dem Kokon traten, wenn der ihnen verfügte Todestag endlich gekommen war. Eine Stunde? Oder noch einen Tag lang? Wie weit gelang es ihnen, fortzuwandern, ehe sie niedergestreckt wurden? Die meisten, stellte Torlyri sich vor, hockten sich einfach nieder und warteten, bis ihr Ende zu ihnen kam. Aber hatte nicht doch die eine, der andere unter ihnen sich in den letzten Lebensstunden von einer verzweifelten Neugier überwältigen lassen und den Versuch unternommen, über den festgesetzten Rand hinaus in die Welt vorzudringen? Etwa hinab zum Fluß? Aber – hatte denn jemand wirklich lange genug überleben können, um die Strecke bis zum Gestade des Flusses zu überwinden?
    Sie überlegte träumerisch, wie es sein mochte, wenn man den Klippenhang hinabstieg, um dann dort unten die Fingerspitzen in diesen geheimnisvollen mächtigen Strom zu tauchen.
    Das würde brennen wie ein Feuer, dachte Torlyri. Aber es würde ein kühles Feuer sein, ein reinigendes. Sie stellte sich vor, wie sie in das dunkle Flußwasser hinauswatete… bis zu den Knien, bis zu den Schenkeln, bis an den Leib, wie sie das kalte brennende Wasser über ihre Lenden wirbeln fühlen würde, hinauf bis an ihr Sensorzentrum. Dann sah sie sich durch den wilden wirbelnden Strom dem anderen fernen Ufer zustreben, das so weit weg lag, daß sie es kaum klar erkennen konnte – sie ging durch das Wasser – oder vielleicht sogar wandelte sie über das Wasser, wie es in den Legenden von den Wasserläufern berichtet wurde, und sie wanderte weiter und weiter bis ins Land des Sonnenaufganges… und würde den Kokon niemals wiedersehen, niemals wieder betreten müssen…
    Torlyri lächelte. Wie dumm, sich solchen Wirrträumen hinzugeben.
    Und was für ein abscheulicher Verrat gegenüber dem Stamm es sein würde, wenn sie als die Opferfrau sich ihr Torprivileg zunutze machen und den Kokon im Stich lassen würde! Dennoch spürte sie eine seltsame Lust bei der Vorstellung, daß sie eines Tages einmal so etwas tun könnte. Schließlich, davon träumen, das durfte man doch wohl. Sie vermutete, daß alle, fast alle, hin und wieder mit sehnsüchtigem Verlangen auf die Draußenwelt blickten und sich einem flüchtigen Traum hingaben, dort hinaus zu entrinnen, obwohl natürlich kaum jemand so etwas eingestehen würde. Sie hatte von den Leuten aus den vielen vergangenen Jahrhunderten gehört, die des Daseins im Kokon überdrüssig geworden waren und sich wirklich durch die Schleusentür davongeschlichen hatten und zum Fluß hinunter und in die unzivilisierten Gegenden, die jenseits lagen… nicht weil der Kokon sie ausgeschieden hätte, wie einem das am Tag des Todes zukommt, sondern freiwillig sich unter die Wucht des Tages Wagende, die kühn und aus freien Stücken sich in das frostige Unbekannte-Nichterkennbare aufmachten, um zu erfahren, wie es beschaffen sei. Aber hatte in Wahrheit jemals einer von ihnen sich diesen Weg in die Verzweiflung gewählt? Die Legenden sagten, es war so; doch wenn derlei wirklich jemals geschehen war, so doch nicht in den Tagen eines der jetzt noch Lebenden des Volkes. Allerdings, die Mutigen, die sich auf diese Weise vorgewagt hatten (sofern es sie jemals gegeben hatte), konnten natürlich niemals zurückkehren, um zu berichten; sie mußten ja doch beinahe sofort in der rauhen feindlichen Draußenwelt sterben. Dort hinauszugehen, das ist Wahnsinn, dachte Torlyri. Aber auch wahnsinnig verlockend.
    Dann kniete sie nieder und sammelte auf, was sie für die Opferzeremonie drinnen benötigte.
    Und plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel eine blitzschnelle Bewegung wahr. Sie wirbelte bestürzt herum und blickte hinter sich, zur Luke, gerade noch rechtzeitig, daß sie die kleine federleichte
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