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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters
Autoren: Robert Silverberg
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so nehmt dies hier zum Treuepfand für unser Versprechen.
    Torlyri war nun an der Stelle des Ausgangs angelangt und stellte die Opferschale ab, dann griff sie nach dem Handrad, durch das der Lukendeckel zu öffnen war. Es war nicht ganz leicht, das große blitzende Rad zu drehen, doch unter ihren Händen bewegte es sich geschmeidig. Torlyri war stolz auf ihre Stärke. Weder Koshmar noch gar irgendein Mann im Stamm, nicht einmal der gewaltige Harruel, der größte und stärkste der Krieger, keiner vermochte sich mit ihr im Armstand, Beinringen oder Höhlensegeln zu messen.
    Die Schleuse öffnete sich. Torlyri trat hinaus. Die scharfe stechende Morgenluft brannte in ihren Nasenlöchern.
    Gerade stieg die Sonne herauf. Ihr eisiges rotes Glühen füllte den ganzen östlichen Himmel aus, und die wirbelnden Staubpartikel, die in der Frostluft tanzten, schienen wie von innen heraus zu brennen und zu glühen. Über den Rand der Felsplatte, auf der sie stand, sah Torlyri tief drunten den breiten schnellen Fluß, der vom gleichen karmesinroten Licht es Morgens glühte.
     Einst hatte man diesen gewaltigen Fluß unter dem Namen Hallimalla gekannt, so jedenfalls nannten ihn jene, die an seinen Ufern gelebt hatten; und vor diesen trug er den Namen Sipsimutta; und in einer noch viel weiter zurückliegenden Zeit hatte sein Name Mississippi gelautet. Torlyri wußte von alledem überhaupt nichts. Für sie war der Fluß ganz schlicht nichts weiter als ‚der Fluß’. Alle die anderen Namen waren inzwischen vergessen und waren seit Tausenden von Hundertjahren vergessen. Harte Zeiten waren über die Erde gekommen, als der Lange Winter einsetzte. Die Große Welt selbst war untergegangen, wozu also hätten ihre Namen fortleben sollen? Gewiß, ein paar Begriffe hatten sich erhalten, aber nur einige wenige. Und so war der Fluß nun namenlos.
    Der Kokon, in dem die sechzig Stammesangehörigen von Koshmars Volk ihre Lebenszeit zubrachten – wo ihre Ahnen und Urahnen seit unvordenklicher Zeit sich zusammengedrängt hatten, um auf das Ende der endlosen Dunkelheit und Kälte zu warten, die mit den herabstürzenden Todessternen gekommen waren… dieser Kokon war ein hübsch-gemütlicher Höhlenbau, der in die hohe Steilwand eines Kliffs gegraben war, hoch über diesem gewaltigen Fluß. Am Anfang – so sprachen die Chroniken – hatten sich die Menschen, die Völker, welche die frühen Tage der schwarzen Regenfälle und der entsetzlichen Kälte überlebten, damit begnügt, in rohen Höhlen zu hausen, sich von Wurzeln und Samennüssen zu nähren, und von den fleischbedeckten Lebewesen, sofern es gelang, sie zu fangen. Dann aber war der Winter schärfer geworden, die Pflanzen und die Wildtiere waren aus der Welt verschwunden. War die menschliche Phantasie und Erfindungsgabe jemals vor ein schwierigeres Problem gestellt gewesen? Aber der Kokon war die Lösung: die in der Tiefe vergrabene autarke und autonome Enklave, die man in Bergflanken und Talhängen hoch über der möglichen Schneegrenze anlegte. Zahlenmäßig kleine Gruppen des Volks (und die Anzahl wurde rigoros durch Zuchtwahl- und Fortpflanzungsbeschränkung kontrolliert) zogen in die abgeschotteten Kammern des Kokons. Glühbeerentrauben sorgten für die Beleuchtung; komplizierte Ventilationsschächte führten Frischluft herein; die Wasserversorgung erfolgte durch Anzapfen der tiefen Grundwasserströme. Feldfrüchte und Nutztiere hatte man durch magische Tricks, die inzwischen in Vergessenheit geraten waren, dem Leben unter Kunstlicht angepaßt, und man produzierte sie in anliegenden Kammern um den Kokon. Diese Kokons waren kleine isolierte ‚Lebensinseln’, völlig und komplett in sich geschlossen und abgeschlossen gegen die Außenwelt, als wäre jeder davon auf einem einsamen Flug durch die tiefe Nacht des Weltenraums. In ihnen warteten die Überlebenden des großen Weltenkataklysmas die Zeit ab, jahrhundertelang und zehn und mehr Jahrhunderte lang, die Zeit, bis die Götter müde würden und nicht länger Todessterne vom Firmament herabschleudern wollten.
    Torlyri trat an den Opferstein, setzte ihre Schale ab, richtete den Blick in alle Geheiligten Fünf Richtungen und sprach nacheinander die Fünf Namen.
    »Yissou«, sagte sie. »Hüter…«
    »Emakkis. Ernährer…«
    »Friit – Heiler…«
    »Dawinno – Zerstörer…«
    »Mueri – Trösterin…«
    Ihre Stimme klirrklingelte und hallte durch die Stille. Als sie die Opfergaben des Vortags aufnahm, um die Schale zu leeren, blickte
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