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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters
Autoren: Robert Silverberg
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die Stunde, zu der Torlyri sich anschickte, den Fünf Himmlischen die tägliche Opferspende darzubringen.
    Torlyri war hochgewachsen, und sie war sanft und freundlich, und sie war berühmt wegen der großen Schönheit ihres Leibes und der süßen Sanftmut ihrer Seele. Ihr Fell war von einem üppig schimmernden Schwarz, gezeichnet von zwei bestürzenden weißleuchtenden Spiralen, die sich über die ganze Länge ihres Leibes erstreckten. Starke Muskelstränge schwellten sich unter der Haut. Ihre Augen waren weich und dunkel, ihr Lächeln warm und offen. Alle im Stamm liebten Torlyri. Von der Kindheit an war sie ausgezeichnet und bestimmt gewesen, eine wahre Führerin zu sein, eine Leitgestalt, an die andere sich jederzeit um Rat und Hilfe wenden konnten. Wäre da nicht die Sanftmut ihrer Seele gewesen, sie hätte sehr wohl selbst Stammesführerin werden können, an Koshmars Stelle; doch Schönheit und Stärke allein sind nicht genug. Ein Anführer darf nicht sanftmütig sein.
    Und darum waren sie an jenem Tag zu Koshmar gekommen und nicht zu Torlyri, neun Jahre war es nun her, als der alte Stammesführer, Thekmur, die Altersgrenze erreicht hatte. »Mein Sterbetag ist gekommen«, hatte die kleine zähe Thekmur feierlich zu Koshmar gesagt. »Und darum ist heute der Tag, an dem deine Führerschaft beginnt«, ergänzte Thaggoran. Und so wurde Koshmar Stammeshäuptling, genau wie man es fünf Jahre zuvor beschlossen hatte. Aber für Torlyri hatte man eine andere Bestimmung beschlossen. Als nicht lange darauf die Zeit für Gonnari gekommen war, die Opferfrau, durch die Tür zu gehen wie Thekmur vor ihr, traten Thaggoran und Koshmar vor Torlyri und legten ihr die Opferschale in die Hände. Und dann umarmten sich Koshmar und Torlyri, und heiße Tränen standen ihnen in den Augen, und sie traten vor den Stamm und nahmen ihre Erwählung an; und etwas später am selben Tag feierten sie ihre zwiefache Ernennung auf intimere Weise, lachend und einander liebend, in einer der Tvinnr-Kammern.
    »Jetzt sind wir an der Reihe zu herrschen«, hatte Koshmar an jenem Tag gesagt. »So ist es«, antwortete Torlyri. »Endlich ist unsere Zeit gekommen.« Aber sie wußte die Wahrheit, daß nämlich die Zeit der Herrschaft für Koshmar gekommen sei – und für Torlyri die Zeit des Dienens. Jedoch: Waren sie nicht beide Dienerinnen des Volkes? Die Führerin und die Opferträgerin?
    Neun Jahre lang hatte Torlyri an jedem Morgen den gleichen Gang getan, sobald durch das Auge der Luke das lautlose Zeichen zu ihr gelangt war, daß die Sonne in den Himmel heraufgedrungen sei: sie war auf der Himmelsseite aus dem Kokon getreten und durch die engen steilen Gänge im Innern der Felsklippe wie durch ein Labyrinth zum Kamm hinaufgestiegen, bis sie schließlich jene flache Stelle an der Spitze erreichte, den ‚Ort des Ausgangs’, an dem sie das Ritual vollzog, das ihre wichtigste Dienstpflicht gegenüber dem Volk darstellte.
    Dort löste Torlyri an jedem Morgen die Haspeln der Ausstiegstür und trat über die Schwelle und ging mit vorsichtigen Schritten ein weniges in die Äußere Welt hinaus. Die meisten Angehörigen des Volks überschritten diese Schwelle nur dreimal im Lauf ihres Lebens: am Tag ihrer Namensgebung, am Tag ihrer Tvinnr und an ihrem Todestag. Der Anführer sah die äußere Welt ein viertes Mal, nämlich am Tag, an dem sie gekrönt wurde. Torlyri hingegen genoß das Privileg und die lastende Bürde, an jedem Morgen ihres Lebens in die äußere Welt hinauszutreten. Aber auch ihr war nur erlaubt, bis zu dem Opferstein aus rosigem Granit mit den blitzenden Feuerglimmerfunken zu gehen, sechs Schritte vom Gatter entfernt. Auf diesen heiligen Altarstein setzte sie sodann tagtäglich ihre Opferschale mit einigen Kleinigkeiten aus der inneren Welt, einer Handvoll Glühbeeren, ein paar gelben Halmen von Wandmatten, oder mit einem Stückchen verkohlten Fleisches; sodann leerte sie die Opfergaben aus der Schale des Vortags und sammelte etwas aus der Außenwelt auf, um es mit nach drinnen zu tragen: eine Handvoll Erde, ein paar Steinchen, ein Halbdutzend Rotgrashalme. Dieser tägliche Tausch war für die Wohlfahrt des Stammes von entscheidender Bedeutung. Denn was damit Tag für Tag den Göttern gesagt wurde, war dies: Wir haben nicht vergessen, daß wir aus der Welt stammen und in der Welt sind, auch wenn wir jetzt von ihr abgesondert leben müssen. Eines Tages werden wir wieder hervorkommen und auf der Welt leben, die ihr für uns geschaffen habt,
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