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Am Anfang war das Chaos

Am Anfang war das Chaos

Titel: Am Anfang war das Chaos
Autoren: Hans Kneifel
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tödlich. Seine Hiebe mit den Krallen waren es nicht weniger. Er erkämpfte ihr einen Weg bis hinunter zu einer Lichtung. Sie schlug schwer zu Boden, kroch unter einen Baum und zerriß sich viele Federn, als sie zwischen kreisförmig aufgerollten Ranken hindurchkroch.
    Schweiß und Blut liefen über ihr Gesicht. Mit weichen, triefenden Federn wischte sie sich die Augen frei und humpelte weiter. Über ihr erscholl das Kreischen der Aasvögel und das wütende Schreien des weißen Kampfvogels. Es war tatsächlich ein riesiger, schneeweißer Falke gewesen, sagte sich Sgnore und holte keuchend Luft. Sie war am ganzen Körper verletzt und zerschunden.
    »Wie… wie ein Wächter der Ruinen. Ein fliegender… Wächter«, ächzte sie und humpelte auf den Pfad hinaus, über die Lichtung und wieder in das regentriefende Halbdunkel des Waldes. Sie erkannte die Steine und die Bäume wieder und wußte, daß sie sich auf dem richtigen Weg befand.
    Als der Pfad durch den schmalen Bachlauf führte, tauchte sie im kühlen, sauberen Wasser unter und kühlte ihre Wunden. Sie war erschöpft, der Blutverlust machte sie schwindelig.
    Schließlich, als sie hinter den Bäumen und Schlingpflanzen bereits die Silhouette von Schattenparadies und den Schein des Feuers sah, war ihr Gefieder trocken. Sie nahm einen Anlauf und spannte ein letztesmal ihre Muskeln. Halbtot landete sie in dem Mauerloch, kauerte sich zusammen und schlief ein.
    Der Bericht über ihre Erlebnisse hatte Zeit.
*
    Caronj hob mit dem rechten Arm langsam seine Lanze. Gestern erst hatte er die lange Spitze an einem Stein blitzend scharf geschliffen. Heute befanden sich schon wieder Rostflecken auf dem Metall.
    »Hengster«, sagte er leise zu sich selbst, »so weit warst du von Schattenparadies noch nie entfernt.«
    Während Sgnore die Umgebung rechts vom Feuer und den halb aufgebauten Ruinen zu entdecken versuchte, befand er sich auf der gegenüberliegenden Seite, an der breitesten Stelle der Landinsel. In dem breiten Gurt, der um seinen Oberkörper lief, steckte seine Streitaxt.
    Als Kundschafter in der fremden Wildnis fühlte er sich unbehaglich. Damals, vor der Vernichtung, hatte er jeden Stein gekannt. Hier kannte er fast nichts. Aber er trabte ganz langsam zwischen den hochragenden Stämmen des Waldes weiter; hier gab es nur Wurzeln, riesige Pilze und eine weiche, faulende Schicht alter Blätter und Pflanzenabfälle. Ab und zu traten seine Hufe auf die knackenden Knochen eines winzigen Skeletts – ein Vogel oder ein kleines, vierfüßiges Tier.
    »Leise!« warnte er sich.
    Ihm wäre es lieber gewesen, wenn Ilfa oder Helmond auf seinem Rücken gehockt hätten. Aber sie befanden sich an einer anderen Stelle der Umgebung. Caronj merkte sich besonders auffällige Stellen des Waldes, zog mit der Spitze der Lanze Schnitte in die schwarze Rinde und in das Moos, das auf den Flanken der Steine wucherte.
    Seit Stunden war er unterwegs.
    Er hatte so gut wie nichts gefunden. Keine Straße, keine Zeichen einer menschlichen Besiedlung, nur ein Geflecht von schmalen Pfaden und Schlamm, stinkende Pilze, seltsame Blüten und wenige Früchte an den Zweigen. Eine Gegend, die Trostlosigkeit ausstrahlte.
    Vor sich schien sich jetzt etwas zu ändern. Zwischen den Pflanzen sah Caronj eine Reihe von fast gleichmäßigen Steinen. Es konnte eine Straße sein oder der Teil einer Straße. Er galoppierte darauf zu, die Büsche wichen zur Seite, Zweige peitschten nach seinem Körper. Er wehrte die Schläge mit dem Schaft der Lanze ab und hörte, als er auf die freie Fläche hinaustrat, hinter den raschelnden Büschen einen seltsamen Laut. Lange hatte er ein solches scharfes Brummen oder Knurren nicht mehr gehört.
    »Ein Tier?«
    Er sprang hinaus auf die Steine. Zwischen ihnen wucherte schwarzgrünes Moos. Rechts sah er eine Bewegung, und er riß den Speer in Verteidigungsstellung.
    Unter den Bäumen, deren Wurzeln wie riesige, bewegungslose Bündel von Riesenschlangen aussahen, schüttelten sich die Büsche. Ranken wurden zur Seite gerissen und brachen. Aus den starren, stacheligen Gewächsen sprang mit einem Satz, brüllend und mit gefletschtem Gebiß, ein riesiges Tier.
    Es fauchte ein zweitesmal auf, zornig und hungrig. Das Tier sah aus wie eine riesige Katze.
    Ein Raubtier!
    Es hatte Caronj, den Hengster, als Beute ausgespäht. Der Angriff erfolgte mit rasender Zielsicherheit. Mit zwei weiteren Sprüngen, die den riesigen Körper nach vorn schleuderten, setzte die Raubkatze zum entscheidenden
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