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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Autoren: Mary Mackey
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das man feilschen sollte, als wollte man Perlen eintauschen.
    »Und bitte mach das Wasser tief«, fügte sie hinzu, während sie Xori einen weiteren Kuß zuwarf, denn obwohl Marrah durchaus wußte, daß die Gezeiten um das Dorf stark voneinander abweichen konnten, hatte sie diese Tatsache am Abend zuvor nicht berücksichtigt. Schnell warf sie erneut einen prüfenden Blick aufs Meer und bemerkte zu ihrer Erleichterung, daß sie Glück hatte. Die Flut kam gerade herein, aber wie hoch würde das Wasser diesmal steigen? Ein halbes Dutzend Handbreit Wasser mehr oder weniger konnten einen gewaltigen Unterschied bedeuten, wenn man aus einer Höhe sprang, die das Fünffache der eigenen Körpergröße ausmachte. Nun, es blieb keine Zeit mehr, um herumzustehen und sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Wenn der Wasserstand gefährlich niedrig war, würde sie die Göttin um Aufschub bitten müssen. Und ansonsten würde sie nehmen, was kam.
    Marrah befahl den Hunden zurückzubleiben und rannte dann den Strand hinunter. Als sie die lange Reihe der umgedrehten Fischerboote erreichte, kam sie schlitternd zum Stehen und betrachtete sie sehnsüchtig. Die Boote waren ausgehöhlte Kanus, ungefähr fünfzehn Handbreit lang, die Seitenwände mit Schnitzereien verziert, die Szenen aus dem Leben von Amonah und Xori darstellten. Marrah wußte, sie konnte mühelos eines herumdrehen und in die Brandung hinausziehen, ja sogar den Mast aufrichten und das Ledersegel setzen, wenn der Wind nicht zu stark blies, aber obwohl die Idee eines kleinen Ausflugs zu den Klippen verlockend war, war ihr klar, daß sie großen Ärger bekommen würde, wenn ihre Tanten und Onkel herausfanden, daß sie wieder einmal ein Boot ohne Erlaubnis genommen hatte.
    Sie hatte das an ihrem dreizehnten Geburtstag versucht, der jetzt knapp fünf Monate zurücklag, und noch Wochen danach war sie gezwungen gewesen, sich endlose Geschichten von Kindern anzuhören, die sich heimlich ein Boot genommen hatten und prompt damit gekentert und ertrunken waren. Wenn sie eine Frau war, konnte sie hinaussegeln, wohin auch immer sie wollte, aber obwohl die Zeremonie anläßlich ihrer Volljährigkeit noch an diesem Morgen stattfinden würde, war sie immer noch ein Kind. »Ich komme später wieder zu euch zurück«, versprach sie den Booten, bevor sie mit einem letzten sehnsüchtigen Blick davonrannte – und gerade noch rechtzeitig: Sie hatte knapp den letzten der Einbäume hinter sich gelassen, als Seshis hungriges Geschrei die morgendliche Stille zerriß.
    In aller Eile lief sie um den Landvorsprung herum und stand bald auf einer der hohen Klippen, die aufs Meer hinunterblickten und zu deren Füßen die Wellen so heftig gegen den Felsen schlugen, daß die Stelle an einen großen schäumenden Hexenkessel voll kochenden Wassers erinnerte. Beim Anblick der wilden Brandung verließ Marrah beinahe der Mut, doch dann sah sie, daß die Flut fast den Höhepunkt erreicht hatte. Sie zog ihr Kleid aus, warf es zu Boden und stand dann nackt im Wind, mit nichts als der kleinen Muschelkette um ihren Hals bekleidet. Sie war ein schlankes Mädchen, mit kräftigen Armen und Beinen, winzigen Brüsten, runden Hüften und einer schmalen Taille, aber sie war sich ihres Körpers ebensowenig bewußt wie der Vogel, nach dem man sie benannt hatte.
    Sie war niemals gezwungen worden, sich auch nur an einem einzigen Maßstab der Perfektion zu messen. Ihr Volk bewunderte Frauen aller Altersklassen und jeglicher Gestalt oder Figur, weil es glaubte, daß menschliche Schönheit – wie die Schönheit von Blumen – unendlich viele Variationen aufwies. Diese Zuversicht, daß sie perfekt waren, war Teil dessen, was Mädchen wie Marrah eine solche Anmut und Selbstsicherheit gab. In der Sprache des Küstenvolkes bedeutete das Wort »häßlich« lediglich übellaunig und selbstsüchtig, und Marrah wußte, daß sie keines von beiden war.
    Sorgsam zählte sie den Rhythmus der Wellen, versuchte, sich auf ihn einzustimmen, während sie gegen den Fuß des Felsens schlugen. Es schien, als stiege das Wasser noch weiter. Wenn ich es jetzt nicht tue, dachte sie, werde ich niemals den Mut dazu aufbringen. Sie zählte ein letztes Mal, um sicherzugehen, daß sie den richtigen Zeitpunkt für ihren Sprung abpaßte, dann schloß sie die Augen, nahm Anlauf und sprang in die Tiefe, mit den Füßen voran.
    Der Sturz durch die Luft war grauenhaft, doch Marrah hatte keine Zeit, um darüber nachzudenken. Sie hörte das Rauschen der Wellen, die
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