Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles ist grün

Alles ist grün

Titel: Alles ist grün
Autoren: David Foster Wallace
Vom Netzwerk:
weder ein Trauma der Atmungsorgane noch der Verlust von Körperflüssigkeiten sei, sondern … Altersschwäche. Diese Kehrtwende von Mark wird mit einem kollektiven »?!?« aufgenommen. Obwohl sie liebevoll gemacht ist.
    Stell mal ein paar schlichte Kosten-Nutzen-Analysen an, rät Ambrose Nechtr und reibt sich die roten Kommata, die seine Brille auf dem orangenen Nasenrücken hinterlassen hat: Warum willst du die sorgfältig gestaltete und tief empfundene Stimmung der Erzählung und ihren charmanten emotionalen Realismus mit einem so jähen, grundlosen und, schlimmer noch, symbolischen Surrealismus kompromittieren?
    Zumal die eigentliche Substanz der Erzählung erst noch kommt, denn im Zuchthaus von Maryland wartet ein starr erschütterter und noch ungesünderer Dave auf den Prozess und die Gerechtigkeit des Strafvollzugs, die verdient zu haben er nicht abstreiten kann. Das epistatische Salz in der Wunde ist, dass Dave unschuldig ist, gleichzeitig aber schuldig daran,unschuldig zu sein: Seine erwachsene Angst vor der Interpretation seiner Fingerabdrücke und seines Schafts durch die Gemeinschaft hat ihn dazu gebracht, seinen Pfeil stecken zu lassen, eine Geliebte zu verraten und seine eigene instinktive Ehre zu verletzen. Wie süßsauer ist dieses Salz in der Wunde, wie ethisch und schlau gestaltet, sagt Ambrose, und wir machen uns Notizen; und es hat einen ganz eigenen, unmodischen Charme, das Wort Ehre heute noch als Substantiv zu hören.
    In der Erzählung, die wir, das ist Seminarvoraussetzung, alle gelesen und mit ausführlichen Randbemerkungen versehen haben, erfahren wir derweil, dass absolut nichts in Daves behütetem Vorleben ihn auf die Hölle des Zuchthauses vorbereitet hat, in dem er seinen Prozess erwartet. Er sitzt in einer engen, grauen, scheußlichen Zelle. Und er ist dort nicht allein. Er hat einen Zellengenossen. Sein Zellengenosse ist das Gestalt gewordene Grauen. Der abgebrühte Berufsverbrecher, der als überführter Fälscher sein Urteil erwartet, leckt sich bei Daves Ankunft die feuchten Lippen, ein Wiederholungstäter, der gemäß den Gesetzen von Maryland dieselbe lebenslange Freiheitsstrafe wie Dave zu erwarten hat. Der Zellengenosse hat einen abscheulichen, wabbeligen, kotzweißen, spinnenartigen, blähsüchtigen, pockennarbigen, zystischen und karbolischen Körper. Dave findet ihn abstoßend, und die offenkundige Tatsache, dass der Fälscher namens Mark seinen eigenen Körper verabscheut, es sich selbst übel nimmt, dass seine beengte Aufbewahrung zwei Drittel der Zelle in Anspruch nimmt, von den Geräuschen und Gerüchen angewidert ist, die er bei jeder Bewegung, bei jedem Atemzug und bei jedem Gebrauch des Ausscheidungseimers der Zelle von sich gibt – dieser Selbsthass steigert nur den Ekel des jungen Bogenschützen. Und das Grauen. Der Zellengenosse ist so grausam, viehisch, hart, furchteinflößend, sadistisch, verroht und widerwärtig (er setzt sich sogar auf Daves Kopf und verlangt, Dave solle die Rolle des Bidets übernehmen oder er werde die Konsequenzen zu spüren bekommen), dass Dave mit sich zurate geht, ob der Selbstmord dem Zusammenleben mit dem höllischen Fälscher in der beengten und stinkenden Zelle nicht vorzuziehen sei; aber keinen Augenblick lang, so die Erzählung, fühlt sich Dave vom Universum im Allgemeinen misshandelt, er bezweifelt auch nicht, dass er genau da ist, wo er hingehört; er kann nicht die Augen schließen, ohne sofort das diplope Doppelbild der unablässig bittenden und alternden (!?) Augen seiner Geliebten vor sich zu sehen und gleichzeitig seine eigenen Augen senkrecht über ihr, hin- und herschießend, mehr damit beschäftigt, wie er gesehen wird, als mit dem, was er sieht. Denn wenn er nicht missbraucht und misshandelt, besetzt und beschissen wird, hat Dave Zeit nachzudenken; und so wird er im Zuchthaus ein zweites Mal erwachsen. Er ist, riskiert die Erzählung ein Urteil, »reumütig«, und Reue sei kein Zustand, erinnert uns Ambrose von seinem Standort vorn an der grünen Tafel, sondern habe in seinen alt- und mittelhochdeutschen Wurzeln Verlaufscharakter. Dave akzeptiert seine inakzeptable Gefangenschaft, abgestumpft, aber nicht passiv.
    Nun hasst Mark der Fälscher die winzige Zelle noch mehr als Dave, aber Spinnenschädeln, ungestört von naiven romantischen Vorstellungen wie Ehre oder Verrat, kommt ja nie der Gedanke an Selbstmord in den Sinn. Nur hat Mark durchaus Ideen. Er glaubt – und flüstert wieder und wieder, während Dave mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher