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Alles Boese mir vergib

Alles Boese mir vergib

Titel: Alles Boese mir vergib
Autoren: David Meinke
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aufführten.
    „Ist die Botschaft angekommen?“
    „Ja. Ganz sicher. Es geht schließlich auch um meine Zukunft.“Bei diesen Worten beugte ich mich vor. Und obwohl dieses „schließlich“ ein wenig provozierend klang, hatte es auch etwas Engagiertes, und Rektor Erik Nielsen wirkte schwer zufrieden.
    Mateus und Liv legten eine Prüfung nach der anderen ab und redeten davon, in den USA studieren zu wollen oder ein Jahr in der Welt herumzureisen. Ambitionen. Streben. Zukunft. Und plötzlich wurde mir da am Bahnsteig klar, dass die Leute all diesen Scheiß nur machen, weil sie Angst vorm Sterben haben. Die Pläne für den kommenden Tag verdrängen die Angst davor, dass dieser Tag womöglich niemals kommt.
    Ich hätte eigentlich mit der Polizei reden sollen, da auf dem Bahnsteig. Aber die Zeit verging – und ich hielt es dort nicht mehr aus. Also machte ich den Abflug. Rein in die S-Bahn, rüber nach Nordhavn und auf zum Gespräch mit Rektor Erik Nielsen. Und wir gaben uns zum Abschied die Hand, redeten kurz über die Sommerferien, das Wetter und das Bild an der Wand seines Büros, das einen Billard spielenden Hund zeigte. Nichts davon bedeutete irgendetwas. „Gut für den Garten“, hatte die Frau auf dem Bahnsteig gesagt.
    Dicke Regentropfen fielen vereinzelt aus den schwarzen Wolken, die über dem Bahnhof von Hellerup gehangen hatten. Das Gespräch war vorbei. Ich hatte vage in Erinnerung, dass ich am nächsten Tag zur mündlichen Jahresabschlussprüfung in Dänisch musste. Bildanalysen, Textinterpretation, Klaus Rifbjerg. Dänisch war das einzige Fach, das mich halbwegs interessierte. Eben weil es völlig überflüssig war. Man kam im Leben problemlos ohne dänische Literatur aus. Dänisch war mein Fach.
    Es war mir hingegen total egal, dass ich in Mathe durchgefallen war. Und dass ich Physik nur mit Hängen und Würgen bestanden hatte.
    Meine Mutter war wegen der Physiknote und der Mathekatastrophe total außer sich. Meine Schwester Sandra hatte ihre Prüfungen nämlich ebenfalls komplett in den Sand gesetzt. Zwar war sie durchaus ein helles Köpfchen und hatte das Schuljahr recht stark begonnen, aber im Laufe des dritten Jahres in der Oberstufe hatte sie das Lernen mehr und mehr durch das rhythmische Einnehmen von Tequila-Shots ersetzt. Und durch den rhythmischen Beischlaf mit ihrem neuen Stecher, Joakim. Jetzt machte sie sich vor Schiss in die Hose. Ihre Noten brachen keine Rekorde, waren aber so ordentlich, dass sie die Chance hatte, fürs Jurastudium zugelassen zu werden, wenn sie das Niveau bei den letzten Prüfungen halten konnte. Aber das konnte sie nun nicht – der traurige Höhepunkt war, dass sie sich während der Englischprüfung übergeben musste. Angst und Tequila in Form von gelben Klumpen. Unsere Mutter war jedoch so nachsichtig, sie nicht mit Vorwürfen zu überschütten.
    Stattdessen bekam ich das volle Programm ab. Die ganze Leier von den vielen Pausenbroten, die sie geschmiert hatte, den zahllosen Entbehrungen, die sie erlitten hatte, und so fort. Und dass ich mich doch bitte am Riemen reißen solle – noch dazu, wo mir das Lernen doch so leicht falle.
    Überhaupt sollte ich mich künftig zusammenreißen. Damit ich eine interessante Ausbildung machen und einen geilen kreativen und/oder lukrativen Job kriegen würde. Aber scheiß drauf. Das war es nicht wert. Barkeeper auf Trinidad klang viel verlockender und realistischer.
    Das erwähnte ich ihr gegenüber aber nicht – und dankte Gott dafür, dass es andere Dinge gab, an die sie denken musste – nämlich die Tatsache, dass mein Vater vor zwei Monaten von Manchester nach Østerbro gezogen war, um wieder einen auf heile Familie zu machen.
    Mein Vater. Beim Gedanken an ihn wurde mir noch elender zumute. Er verleidete mir sogar einen guten Joint. Ich hoffte nur noch, dass die kommenden Monate schnell vergehen würden, damit er wieder nach England zurückziehen konnte. Meine Mutter war wieder verliebt und Sandra jubelte vor Glück. Beide weigerten sich, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass mein Vater sich keinen Deut verändert hatte. Wahnsinnig nett, warmherzig, lustig, charmant – und zu nichts nutze. Er hatte etwas Kohle verdient mit Schlankheitspillen, die aus Haferfasern und Garnelenschalen bestanden. Alle englischen Frauen zwischen fünfzehn und fünfundvierzig hatten Schlange gestanden, um 250 Kronen für eine Packung zu berappen. Jetzt arbeitete er abends als obligatorischer englischer Barmann im Foley’s , und tagsüber lag er
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