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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman
Autoren: Heyne
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umgebracht. Eine verdammt scheußliche Sache. Kanntest du ihn?« Er zeigte auf den Toten.
    »Hab den Burschen heute Abend zum ersten Mal gesehen. Er kam mir komisch vor, und deshalb bin ich ihm gefolgt. Vielleicht ergibt sich was, dachte ich mir.«
    »Es hat sich was ergeben, nehme ich an.«
    »Ja.« Sebastian erwachte langsam aus der Starre, erinnerte sich an die Kamera und alles andere. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Er nickte in Richtung Gebäude. »Kann ich mir die Sache ansehen?«
    »Hast du noch nicht genug?«, fragte Torensen erstaunt. Sebastian zuckte mit den Schultern und wandte sich vom Toten ab. Als sie über den Weg zum Apartmenthaus gingen, regnete es stärker, und er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, obwohl das kaum etwas nützte. Bevor sie das Gebäude betraten,
sah Sebastian noch einmal zurück. Sein Blick galt den Sanitätern, die die Bahre mit dem Toten in einen der beiden Krankenwagen schoben, aber er bemerkte auch, wie der heftig gestikulierende Taxifahrer von zwei Polizisten vernommen wurde.
    Als der Lift sie nach oben in den achten Stock brachte, spürte Sebastian, wie seine Knie zitterten. Um sich abzulenken, musterte er den Mann an seiner Seite. Alexander Torensen trug einen zerknitterten grauen Anzug mit schief sitzender Krawatte - Sebastian hatte ihn nie ohne Krawatte gesehen. Normalerweise lachte und scherzte er gern, aber jetzt war er sehr ernst und blasser als sonst. Und er schien älter geworden zu sein, wirkte trotz seiner siebenundfünfzig Jahre wie Ende sechzig. Zwanzig Jahre trennten sie voneinander, fast eine Generation, und Sebastian hatte sich oft gefragt, wie sich zwei weitere mit schrecklichen Bildern angefüllte Jahrzehnte auf ihn auswirken würden. Er kannte Torensen seit der Universität, als es ihm schwergefallen war, sich zwischen Journalismus und Kriminalistik zu entscheiden. Alexander hatte ihm damals zum Journalismus geraten, aus gutem Grund. Seitdem verband sie eine lockere Freundschaft.
    »Du hast wieder getrunken«, sagte Torensen, als Sebastian schwankte.
    »Das liegt nicht am Alkohol. Es sind die Knie.« Er stützte sich an der Wand ab. »Als der Kerl die Knarre auf mich richtete … Für einen Moment dachte ich wirklich, es ist aus.«
    »Manche Leute haben Glück«, brummte Torensen. »Andere nicht.«
    »He«, sagte Sebastian, als sich die Lifttür öffnete, »ich bin doch hier der Zyniker. Was ist los mit dir?«

    »Das siehst du gleich.«
    Hinten im Flur standen fast zwanzig Personen, mehr als die Hälfte von ihnen Bewohner der Penthouse-Apartments. Die anderen waren Polizisten und medizinisches Personal. Neben dem Eingang der Wohnung am Ende der Diele bemerkte Sebastian drei Särge, zwei kleine und einen großen. Als sie durch die Tür traten, fiel ihm in der Diele ein großes Kreuz an der Wand auf. Daneben hingen zwei Fotos: Das größere von ihnen zeigte den Papst, das andere schräg darunter ein junges Paar mit zwei lächelnden Kindern. Eine Blutspur kam aus einem der Zimmer, in dem zwei kleine Leichen unter Tüchern lagen. Forensische Spezialisten arbeiteten dort.
    Sebastian schaltete den Rekorder in seiner Hemdtasche ein und folgte dem Kommissar ins Wohnzimmer, wo eine weitere Leiche unter einem Tuch lag, offenbar die eines Erwachsenen. Sie hielten sich dicht an der Wand und beobachteten die Leute von der Spurensicherung bei der Arbeit.
    »Monika Derbach«, sagte Torensen. »Einunddreißig Jahre, seit drei Jahren geschieden. Ihr Ex ist Manager in der Elektronikbranche und überwies ihr monatlich fünftausend Euro.«
    »Sehr großzügig«, murmelte Sebastian. Anna bekam keinen Cent von ihm; sie verdiente genug.
    »Es gab also keine nennenswerten finanziellen Probleme. Trotzdem beschloss die Frau heute Abend, ihre Kinder und sich zu töten.«
    »Fremdverschulden scheidet aus?«
    »Darauf deutet bisher alles hin«, sagte Torensen.
    »Kann ich sie mir ansehen?«
    »Kriegst du nie genug?« Der Kommissar seufzte. »Ich warne dich: Es ist kein angenehmer Anblick.«

    Sebastian trat zu der Leiche, ging in die Hocke und hob das Tuch langsam an. Zuerst sah er nur das erschlaffte Gesicht einer Frau, die im Leben sehr schön gewesen sein musste. Als er das Tuch noch etwas weiter hob, sah er die Hand mit dem Messer, den aufgeschlitzten Bauch und die Gedärme. Der Geruch war vielleicht noch scheußlicher als der Anblick. Ihm kam die Galle hoch. Er ließ das Tuch los, richtete sich auf und kehrte zu Torensen zurück.
    »Harakiri. Es sieht nach Harakiri aus.
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