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Adieu (German Edition)

Adieu (German Edition)

Titel: Adieu (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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der von diesem Zwischenfall tiefbewegt zu sein schien. Seitdem er sich mit dem Irrsinn beschäftigte, hatte er mehrfache Beispiele prophetischen Geistes und der Gabe des zweiten Gesichts angetroffen, von denen einige Proben von Geisteskranken gegeben worden sind, und die, nach den Erzählungen mehrerer Reisender, auch bei den wilden Völkern zu finden sind.
    So wie es der Oberst berechnet hatte, durchquerte Stephanie die vermeintliche Niederung der Beresina etwa um 9 Uhr morgens; sie wurde durch einen Böllerschuß geweckt, der hundert Schritt von dem Ort entfernt abgefeuert wurde, wo die Szene stattfand. Das war das Signal. Tausend Bauern stießen ein schreckliches Geschrei aus, ähnlich dem Verzweiflungsruf, der die Russen erschreckte, als zwanzigtausend Nachzügler sich durch ihre Schuld dem Tode oder der Sklaverei ausgeliefert sahen. Bei diesem Schrei, bei diesem Kanonenschuß sprang die Gräfin aus dem Wagen, rannte mit rasender Angst auf den schneebedeckten Platz, sah die verbrannten Biwaks und das unglückselige Floß, das man in die vereiste Beresina hinabließ. Dort stand der Major Philipp und ließ seinen Säbel über der Menge wirbeln. Frau von Vandières ließ einen Schrei ertönen, der alle Herzen erstarren machte, und stellte sich vor den Oberst hin, der krampfhaft zusammenzuckte. Sie sammelte sich und blickte zunächst unbestimmt dieses fremde Bild an. Während eines Moments, so kurz wie der Blitz, gewannen ihre Augen die entblößte Klarheit der Intelligenz, die wir in dem erstaunten Auge der Vögel bewundern; dann legte sie die Hand an die Stirn mit dem lebhaften Ausdruck eines Menschen, der nachdenkt, sie erfaßte diese starke Erinnerung, dieses verflossene Erlebnis, das ausgebreitet vor ihr lag, wandte lebhaft den Kopf zu Philipp hin und erkannte ihn. Ein schreckliches Schweigen lastete auf der Menge. Der Oberst seufzte und wagte nicht zu sprechen; der Doktor weinte. Stephanies schönes Gesicht färbte sich schwach; dann, in allmählicher Steigerung, gewann sie den Glanz eines vor Frische strahlenden jungen Mädchens. Ihr Gesicht bekam eine schöne Purpurfarbe. Leben und Glück, angefacht durch eine blitzende Einsicht, nahmen immer mehr zu gleich einer Feuersbrunst. Ein konvulsives Zittern breitete sich von den Füßen bis zum Herzen aus. Dann vereinigten sich diese Erscheinungen, die einen Moment aufleuchteten, gleichsam zu einem gemeinsamen Band, als die Augen Stephanies einen himmlischen Funken, eine bewegte Flamme ausstrahlten. Sie lebte, sie dachte! Sie schauderte, vor Schrecken vielleicht! Gott selbst löste zum zweitenmal die erstorbene Zunge und warf von neuem sein Feuer in diese erloschene Seele. Der menschliche Wille erwuchs mit seinen elektrischen Strömen und belebte diesen Körper, von dem er so lange abwesend gewesen war.
    »Stephanie!« schrie der Oberst.
    »Oh! das ist Philipp,« sagte die arme Gräfin.
    Sie stürzte sich in die zitternden Arme, die der Oberst ihr entgegenstreckte, und die Umarmung der beiden Liebenden erschütterte die Zuschauer. Stephanie floß in Tränen. Plötzlich legte sich ihr Weinen, sie wurde leblos, als wenn der Blitz sie gerührt hätte, und hauchte mit schwacher Stimme: »Adieu, Philipp! Ich liebe dich, adieu!«
    »Oh, sie ist tot!« rief der Oberst, indem er die Arme öffnete.
    Der alte Arzt fing den leblosen Körper seiner Nichte auf, umarmte sie, wie es ein junger Mann getan hätte, trug sie fort und setzte sich mit ihr auf einen Holzhaufen. Er blickte die Gräfin an und legte ihr seine kraftlose und krampfhaft zuckende Hand aufs Herz. Das Herz schlug nicht mehr.
    »So ist es also wahr?« sagte er, indem er abwechselnd den unbeweglichen Oberst und das Gesicht Stephanies betrachtete, über das der Tod eine strahlende Schönheit, eine flüchtige Glorie ausbreitete, das Pfand vielleicht einer glänzenden Zukunft.
    »Ja, sie ist tot.
    »Ach, dieses Lächeln!« rief Philipp, »sehen Sie nur dieses Lächeln! Ist es möglich?«
    »Sie ist schon kalt«, erwiderte Herr Fanjat.
    Herr von Sucy machte einige Schritte, um sich von diesem Schauspiel loßzureißen; aber er hielt an, pfiff das Lied, das die Irre kannte, und als er seine Geliebte nicht kommen sah, entfernte er sich mit schwankendem Schritt, wie ein Trunkener, immer pfeifend, aber ohne sich noch einmal umzusehen.
    Der General Philipp von Sucy galt in der Gesellschaft als ein sehr liebenswürdiger und namentlich als ein sehr heiterer Mann. Vor einigen Tagen beglückwünschte ihn eine Dame wegen seiner
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