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Abgekanzelt: Ein Büro-Roman (German Edition)

Abgekanzelt: Ein Büro-Roman (German Edition)

Titel: Abgekanzelt: Ein Büro-Roman (German Edition)
Autoren: Federico Baccomo
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Jahren zum ersten Mal am Schreibtisch gegenüber von ihm Platz genommen habe und er zu mir sagte: »Hallo, ich bin Nicola. Die Akte da oben drauf ist von mir, ich räum sie später weg.« An jenem Tag sagte er nichts mehr. Am nächsten Tag auch nicht.
    Am dritten Tag war ich es, der redete.
    »Hör mal«, sagte ich und fuchtelte mit der Hand, um ihn aus dem Bann seines Bildschirms zu lösen. »Ich kann die Akte übernehmen, okay?«
    Er schaute mich an, und seine Miene schien so etwas wie Zufriedenheit zu verraten.
    »Okay«, antwortete er, als hätte ich eine Prüfung bestanden.
    Wir ergänzen einander. Wir sind füreinander so etwas wie eine leise surrende Klimaanlage oder ein Bild, das zwar schief hängt, aber Farbe ins Büro bringt. Und doch verspüre ich ihm gegenüber immer ein gewisses Unbehagen. Er gehört zu diesem Typ Mensch, von dem man, wenn er wegen irgendeines grausamen Verbrechens verhaftet wird, stets mit einem Seufzer bekennt: »Schrecklich, Herr Kommissar, wirklich schrecklich, aber ich muss gestehen, dass mir irgendetwas an ihm nie ganz geheuer war.«
    »Andrea, dürfte ich dich bitten, mir freundlicherweise kurz das Wörterbuch zu reichen?«, fragt er, während ihm ein dünnes Rinnsal Blut aus der Nase läuft und nun die Lippe erreicht.
    »Bitte.« Ich gebe es ihm und stelle mir vor, wie er im Schein einer Lampe, die auf sein Gesicht gerichtet ist, erklären soll, wo er sich zwischen neun und zehn des Vorabends befunden habe und ob das jemand bezeugen könne.
    Das Signal für eine eingehende E-Mail lenkt mich ab.
    Als ich den Absender sehe, lese ich den Text sofort ungeduldig durch. Timothy, der englische Anwalt, bestätigt, dass die von mir geforderten Änderungen angenommen worden seien und man also weitermachen könne. Er fragt, wie es mit einem Termin für ein Treffen aussehe, eventuell bereits am Nachmittag, damit man den Vertrag fertigstellen und den Mandanten zur Unterschrift vorlegen könne. Unfassbar. Ein Vorgang, der Monate gedauert und mich schlaflose Nächte gekostet hat, für den ich Mahlzeiten und Verabredungen habe ausfallen lassen und der mich neue Flüche gelehrt hat – dieser Vorgang sollte nun an ein Ende gelangen. Natürlich würden noch ein paar Spitzfindigkeiten zu klären und ein paar Präzisierungen vorzunehmen sein, aber schon bald würden wir das Wort »Ende« unter das Ganze setzen.
    Ich antworte sofort und erkläre mich zu einem Treffen bereit. Während ich den Text tippe, fühle ich mich fast glücklich. Ich klicke auf senden und bekomme eine Erektion.
    »Andrea.« Nicolas Stimme holt mich mit einem ungewöhnlich nasalen Klang in die Wirklichkeit zurück.
    »Was ist, Nicola?«, frage ich, ohne aufzublicken.
    »Hast du vielleicht ein Taschentuch? Mir muss ein Äderchen geplatzt sein. Vermutlich der Stress.«
    Ich schaue auf. Er hat den Kopf zurückgelegt und hält sich mit der linken Hand die Nase zu. Üppig schießt Blut daraus hervor.
    »Stress oder Eisenmangel«, schlage ich vor.
    »Eisenmangel, genau. Super, Andrea, das ist es. Eisenmangel.«
    Ich werfe ein Päckchen Kleenex hinüber und treffe ihn an der Brust. Die Taschentücher landen auf dem Boden. Nicola reckt sich danach, gibt Acht, dass er seinen Kopf nicht nach vorne beugt, und tastet zwischen seinen Füßen herum. Schließlich gelingt es ihm, ein paar Taschentücher herauszuziehen und sie sich an die Nase zu halten.
    »Danke«, murmelt er.
    Dieses toskanische Riesenbaby mit den ungelenken Bewegungen und den verlässlich falsch gewählten Socken ist die Person, mit der ich den größten Teil meiner Tage verbringe. Mehr als jede Ehefrau, mehr als jeder Freund, mehr als jede Mutter. Stets von Angesicht zu Angesicht, getrennt nur durch zwei Schreibtische. Ich kenne jede seiner Gesten und jede seiner Mienen. Ich weiß, dass er das Wort pursuant immer falsch auspricht und dass er seinen Hals einrenkt, indem er seinen Kopf erst nach rechts und dann nach links beugt. Die anschwellende Ader, die sich über seine Stirn zieht, ist mir mehr als vertraut. Jeden Morgen verlassen wir unser jeweiliges Leben und treffen uns hier. Jeden Abend kehren wir in unser jeweiliges Leben zurück und verabschieden uns voneinander. Seit Jahren geht das schon so, und doch ist er für mich ein Fremder. Hatschi, Gesundheit, Danke , lautet eines unserer Standardgespräche. Nie würden wir miteinander ausgehen. Wir haben nichts gemeinsam als den Arbeitsplatz. Ich weiß nichts von ihm, von seiner Familie, seinen Freunden, seinem
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