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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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südamerikanische Leidenschaft für den Fußball – einen Sport, der nach ihrer Überzeugung dem Egoismus und der Profilsucht Vorschub leistete – und dirigierten uns in Richtung des raueren, erdverbundenen Rugby. Dieser Sport war schon seit Jahrhunderten in Irland sehr beliebt, in unserem Land war er aber so gut wie unbekannt. Anfangs erschien er uns seltsam – brutal und schmerzhaft, mit viel Schieben und Drücken, ohne das weltoffene Flair des Fußballs. Aber die Christian Brothers waren felsenfest davon überzeugt, dass Rugby die gleichen Charaktereigenschaften erforderte wie ein anständiges Leben als Katholik: Demut, Selbstbehauptungswillen, Selbstdisziplin und Einsatz für andere. Es war ihr erklärtes Ziel, dass wir Rugby spielen sollten, und zwar gut. Und eines war uns schon nach kurzer Zeit klar: Wenn die Christian Brothers sich etwas in den Kopf gesetzt hatten, waren sie kaum noch davon abzubringen. Also legten wir die Fußbälle in die Ecke und machten uns mit dem dicken, ovalen Lederei vertraut, das man beim Rugby verwendet.
    Es waren lange, harte Übungsstunden auf dem Spielfeld hinter der Schule. Die Brüder fingen bei Null an und brachten uns alle ruppigen Tricks des Spiels bei: Drücken und Stoßen, Gedränge und Gasse, Kick und Pass und Tackle. Wir erfuhren, dass Rugbyspieler weder Schulterpolster noch Helme tragen, und doch erwartete man von uns, dass wir aggressiv und mit hohem körperlichem Einsatz spielten. Aber Rugby war nicht nur ein brutaler Kraftsport; es erforderte auch eine solide Strategie, schnelles Denken und Beweglichkeit. Vor allem aber verlangte es, dass die Mannschaftskameraden untereinander ein unerschütterliches Vertrauen entwickelten. Wenn ein Mitspieler stürzte oder niedergeschlagen wurde, »wird er zu Gras«, wie sie uns erklärten. Das hieß, dass die gegnerische Mannschaft auf einem am Boden liegenden Spieler herumtrampeln konnte, als wäre er ein Teil des Rasens. Als eines der ersten Dinge brachten sie uns bei, wie man sich verhält, wenn ein Mitspieler zu Gras wird. »Du musst zu seinem Beschützer werden. Du musst dich selbst opfern, um ihn abzuschirmen. Er muss wissen, dass er sich auf dich verlassen kann.«
    Für die Christian Brothers war Rugby mehr als nur ein Spiel. Es war ein Sport, den sie auf die Ebene einer moralischen Disziplin gehoben hatten. Im Mittelpunkt stand dabei die felsenfeste Überzeugung, dass keine andere Sportart einen Menschen so eindringlich lehren kann, was es bedeutet, im Interesse eines gemeinsamen Ziels zu kämpfen, zu leiden und sich zu opfern. Diese Haltung vertraten sie so leidenschaftlich, dass uns nichts anderes übrig blieb, als ihnen zu glauben, und als wir das Spiel allmählich immer besser verstanden, merkten wir selbst, dass die Brüder Recht hatten.
    Ganz einfach ausgedrückt, hat man beim Rugby das Ziel, die Kontrolle über den Ball zu gewinnen – meist durch kombinierten Einsatz von Klugheit, Schnelligkeit und brutaler Kraft. Wenn ein laufender Mitspieler ihn dann beherzt an einen anderen weitergibt, kann man den Ball über die Tor- oder Mallinie befördern und einen Punkt erzielen. Rugby kann ein Spiel von atemberaubender Schnelligkeit und Beweglichkeit sein, ein Spiel der zielgenauen Pässe und brillanten Fluchtmanöver. Aber das Wesentliche des Rugby liegt für mich in dem brutalen, koordinierten Durcheinander des »Gedränges«, der Formation, die das Markenzeichen des Rugby ist. Im Gedränge bildet jede Mannschaft eine enge, drei Mann tiefe Menschenmenge; gebückt, Schulter an Schulter und mit eingehakten Armen, werden die Spieler zu einem eng verwobenen Keil aus Menschen. Die beiden Gruppen gehen in Angriffsstellung, und die Spieler in den ersten Reihen der beiden Mannschaften greifen sich an den Schultern, sodass sich ungefähr ein geschlossener Kreis ergibt. Auf das Signal des Schiedsrichters wird der Ball in den Tunnel zwischen den Mannschaften geworfen, und jede Gruppe versucht, die andere so weit vom Ball wegzudrücken, dass ein Spieler aus der eigenen ersten Reihe ihn zwischen den Beinen seiner Kameraden hindurch in den hinteren Teil des Gedränges treten kann; dort wartet der Gedrängehalb, um den Ball frei zu bekommen und an einen Spieler der Hintermannschaft weiterzugeben, die dann den Angriff startet.
    Innerhalb des Gedränges wird häufig brutal gespielt: Knie gegen Schläfen, Ellenbogen gegen Unterkiefer, blutige Schienbeine durch Tritte mit schweren Stollenschuhen. Es ist rohe, harte Arbeit, aber sobald der
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