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42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers

42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers

Titel: 42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
Autoren: Karl May
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kindliches, zart gebildetes Füßchen in einem glänzenden Brokatschuh, dessen Länge keinesfalls über die berühmte und von den Frauen so heiß ersehnte Nummer Null hinauskam. Über diese Pantalons war ein faltiges, rotseidenes Röckchen geschürzt, dessen nach unten ausgeschnittener Vorderteil den Schritt freigab und den herrlichen Gliederbau doch noch mehr ahnen als erblicken ließ. Dieses Röckchen wurde um die schlanke Taille von einem in Gold und Perlen reich verzierten Gürtel zusammengehalten, welcher die Weichheit, Fülle und schöne Rundung der Hüften trefflich hervorhob. Darüber schimmerte ein kurzes Röckchen von der Farbe, welche den duftenden Rosen von Schiras abgelauscht zu sein scheint, und als Obergewand fiel zu den Schultern ein oleanderblütenfarbiger Manteau, welcher am Boden eine wallende Schleppe bildete und aus jenem schleierartigen, kostbaren Samt gearbeitet war, welcher nur von den zarten Fingern der Frauen von Derbidschan gewebt werden kann, und zu dessen Anfertigung eine solche Arbeiterin für eine einzige Elle ein Vierteljahr braucht. Dieser köstliche Manteau ließ die vollen, herrlichen Arme frei, deren Schnee durch den Perlmutterglanz der weiten Schorabakschleier-Ärmel entzückend hindurchschimmerte. Und auf dem Kopf trug sie ein dunkles polnisches Barett, mit Kolibri und Paradiesvogelfedern ausgeputzt, unter welchem das dichte, rabenschwarze Haar in zwei langen, schweren Flechten fast bis über die Kniegegend herniedersanken. Ein einziger, aber desto kostbarerer Brillantring schmückte ihr zartes und doch so volles Kinderhändchen.
    Die Züge dieses unvergleichlich schönen Wesens waren weder mit dem Pinsel noch mit Worten zu beschreiben. In ihnen sprach sich die unentweihte Unschuld des Kindes ebenso wie das ungestillte Sehnen der reifen Jungfrau aus; in ihnen vereinigte sich die reine Unberührtheit einer Rafaelischen Madonna mit der verheißungsvollen Glut eines Frauenkopfes von Correggio, und wer in die großen, von dunklen Wimpern beschatteten Augen blickte, welche in einem vollen, tiefen Blau erglänzten, der mußte aus diesem frappanten Kontrast dieses Blaus mit der Rabenschwarze des Haares ahnen, daß diese hinreißende Schönheit aus einer innigen Vermählung des maurischen Blutes mit dem westgotischen entstanden sei.
    Sternau hatte nicht schlafen können. Die Begegnung mit dem heißgeliebten Mädchen hatte sein Innerstes so aufgeregt, daß an eine Ruhe nicht zu denken war. Zwar kehrte er nach seinem Abschied von der Geliebten in seine Wohnung zurück, aber er wanderte während der ganzen Nacht ruhelos in dem kleinen Stübchen auf und ab. Als er nach Anbruch des Tages bemerkte, daß sein Nachbar bereits munter sei, ging er zu diesem hinüber, um sich sein Maultier satteln zu lassen.
    Er bestieg dasselbe und unternahm einen Morgenritt, ohne Richtung und Ziel, nur um seinen Gedanken und Gefühlen Raum geben zu können. Endlich sah er Manresa vor sich, und er bog in die nach Rodriganda führende Straße ein, welche er gestern gekommen war.
    Dort stand eine Venta, ein einsames Wirtshäuschen, vor welchem ein gesatteltes Pferd angebunden war, ein Zeichen, daß sich schon ein Gast in dem Inneren befinde. Auch Sternau stieg ab. Er hatte seit gestern abend nichts zu sich genommen und wollte versuchen, ob er eine Tasse Kaffee erhalten könne. Er trat ein und sah einen nicht sehr fein gekleideten Herrn, vor dem ein chirurgisches Besteck lag, am Tisch sitzen. Es war, ohne daß Sternau es ahnte, der Manresaer Arzt, welcher bei der Operation des Grafen assistieren sollte.
    Der Wirt, welcher neben ihm saß, setzte, als er der Bestellung Sternaus Gehör gegeben hatte, das durch den letzteren unterbrochene Gespräch fort:
    „Also dem Grafen gilt Ihr Besuch, Señor Doktor?“
    „Wie ich bereits sagte“, antwortete dieser.
    „Wird es heute endlich zum Schnitt kommen?“
    „Sicher.“
    „Wann?“
    „Schon um acht Uhr.“
    „Aber die Contezza wird es wieder nicht zugeben!“
    „Sie wird nicht gefragt. Es ist ihr gesagt worden, daß wir die Operation erst um elf Uhr beginnen.“
    „Denken Sie, daß der arme Graf genesen wird?“
    „Ja – und – nein – wer weiß es!“
    Jetzt erhielt Sternau seinen Kaffee. Er hatte genug gehört. Er trank schleunigst aus, bezahlte und verließ die Stube, ohne mit einem Wort erkennen zu lassen, wie sehr er sich für die kurze Unterhaltung interessieren müsse. In gestrecktem Galopp ritt er heim, wo er eine halbe Stunde vor acht Uhr
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