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42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers

42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers

Titel: 42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
Autoren: Karl May
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kommen!
    Rosetta.“
    Nachdem er das Schreiben gelesen hatte, faltete er es zusammen und barg es wieder in der Tasche. Er ritt jetzt durch einen dichten Eichenwald, aber er sah nicht die Eichen und nicht den Weg, den sie besäumten. Er dachte zurück an Paris und an die Stunde, in welcher er die Schreiberin des Briefes zum ersten Mal gesehen hatte.
    Das war im Jardin des Plantes gewesen. Er trat um ein Bosquet, um sich auf die daselbst stehende Bank niederzulassen, und fand dieselbe bereits besetzt. Er wich erstaunt und verwirrt zurück, verwirrt von dem Liebreiz der jungen Dame, welche er in ihrer Einsamkeit gestört hatte. Auch sie erhob sich, und nun sah er sich einer Schönheit gegenüber, wie er sie in dieser Vollendung bisher gar nicht für möglich gehalten hatte. Er, der erfahrene Mann, der Arzt, fühlte, daß sein Puls stehenblieb, um ihm dann mit zehnfacher Geschwindigkeit das Blut aus dem Herzen nach den Schläfen und in die Wangen zu treiben. Jene Stunde entschied über ihn und auch – über sie. Sie liebten einander unaussprechlich, aber auch ebenso unglücklich. Er durfte sie nur in jenem Garten treffen und sehen. Sie war, wie sie ihm mitteilte, Gesellschafterin der Contezza Rosa de Rodriganda, welche mit ihrem blinden Vater in Paris verweilte, und hatte aus Ursachen, welche sie ihm nicht nennen konnte, das Gelübde getan, unverheiratet zu bleiben. Er fühlte sich hochbeglückt vor Wonne über ihre Gegenliebe, doch fast wahnsinnig vor Schmerz über ihren unerschütterlichen Entschluß, den er nicht zu fassen, zu begreifen vermochte. Er bat und flehte, er beschwor sie; sie weinte und blieb dennoch fest. Dann reiste sie ab, und er mußte ihr versprechen, sich niemals nach ihr zu erkundigen. Sie wollten für dieses Leben scheiden, um sich in einer anderen Welt als Selige wiederzufinden. Nur ein einziges Mal hatte er sie an sein Herz ziehen und seinen Mund auf ihre Lippen pressen dürfen; aber diese Wonne wurde von dem Schmerz der Trennung überströmt, und seit jener Zeit hatte er wie ein Riese mit dem Leid gerungen, welches sein Herz durchwühlte und sein Leben umkrallte, allein er hatte es zu keinem Sieg gebracht. Das herrliche Wesen, welches er besessen hatte, nur um es wieder zu verlieren, war der Gedanke seiner Tage und der Traum seiner Nächte, und wenn er auch hoffte, daß sein Herz einst noch zur Ruhe kommen werde, so wußte er doch, daß er diese späte Ruhe mit einem großen Teil seines Lebens bezahlt haben werde. Da plötzlich erhielt er diesen Brief. Er las ihn und fühlte alle seine Fibern beben. Ohne zu fragen und zu sagen, packte er sofort das Nötige ein und folgte dem Ruf der Teuren. Obgleich nur eine Gesellschafterin, war sie ihm doch entgegengetreten wie ein holdes, überirdisches Wesen, wie eine jener Feen, deren Augen zuweilen über das arme Leben des Sterblichen hinleuchten wie ein Blick aus Himmelsräumen. Als nun diese Fee gebot, da mußte er gehorchen. Er flog durch das ganze Frankreich; er eilte in rasender Hast über die Pyrenäen, und nun, nun endlich näherte er sich dem Ziel, wo er sie wiedersehen sollte, die Herrliche, die Unvergleichliche, der er zu eigen war mit Seele, Leib und Leben. Der Galopp des Maultieres war ihm noch zu langsam; er trieb es zu vermehrter Eile, und eben als die Sonne hinter den westlichen Höhen niedertauchte, ritt er in das Dorf Rodriganda ein.
    Es hatte ein weit besseres und freundlicheres Aussehen, als es gewöhnlich bei spanischen Dörfern der Fall zu sein pflegt. Die Straße war breit und sauber, und die Häuser des Ortes lugten mit ihren funkelnden Fensterscheiben ordentlich verführerisch aus den wohlgepflegten Blumengärten hervor. Dies war ein Zeichen, daß der Graf Emanuel de Rodriganda-Sevilla nicht nur ein Herr, sondern vielmehr ein Vater seiner Untertanen sei, der alles tat, um ihr Glück und Wohl zu fördern.
    Sternau fragte einen ihm Begegnenden nach der Wohnung Mindrellos und wurde nach dem letzten Häuschen des Dorfes gewiesen. Er sprang vor demselben von dem Tier und trat ein. Die Familie befand sich soeben bei einer frugalen Abendmahlzeit. Sie bestand aus Mann, Frau, Schwiegervater und vier Kindern, deren helle Augen dem Fremden furchtlos und neugierig entgegenglänzten.
    „Wohnt hier Mindrello?“ fragte Sternau.
    „Ja, Señor, ich bin es“, antwortete der Mann, indem er sich vom Stuhl erhob.
    Er war eine kräftige, untersetzte Gestalt, die jeder Strapaze gewachsen zu sein schien, und sein offenes Gesicht konnte ihm als die
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